„Schwanensee“, Rekonstruktion nach Marius Petipa von Alexei Ratmansky. Tanz: Alexander Jones und Viktorina Kapitonova

„Schwanensee“, Rekonstruktion nach Marius Petipa von Alexei Ratmansky. Tanz: Alexander Jones und Viktorina Kapitonova

Schnelle Beinarbeit und viel Gefühl

Alexei Ratmansky hat mit dem Zürcher Ballett Marius Petipas „Schwanensee“ rekonstruiert

Ungewohnt tänzerisch ist dieser „Schwanensee“ und zeigt, dass sich die Balletttechnik in den letzten 150 Jahren doch deutlich verändert hat. Das Publikum ist begeistert.

Zürich, 07/02/2016

Alexei Ratmansky, der Stern am Klassikhimmel, wagte sich nach seinen Rekonstruktionen von „Paquita“ (2014 am Bayerischen Staatsballett) und „Dornröschen“ (2015 am American Ballet Theatre) nun an den Ballettklassiker schlechthin: „Schwanensee“. Dass dieses Werk bei seiner ersten Uraufführung in Moskau 1877 mit einer Choreografie von Julius Wenzel Reisinger alles andere als ein Erfolg war, ist bekannt. Erst einige Zeit später entstand „Schwanensee“ in seiner heute aus der Ballettwelt nicht mehr wegzudenken Version. Nämlich 1895 als sich Marius Petipa, der damalige Stern am Balletthimmel, und sein zweiter Ballettmeister Lew Iwanow der Musik von Pjotr I. Tschaikowski erneut annahmen, diesmal in St. Petersburg, und damit den Beginn einer bis heute dauernden Tradition setzten.

Da sich Ratmansy nach eigenen Worten nie so recht mit den heutigen Fassungen von „Schwanensee“ anfreunden konnte, so ist im Programmheft zu lesen, reiste er mit seinen Assistenten an die Harvard University, um im dortigen Archiv in den überlieferten Stepanow-Notaten die ‚originale’ Fassung des „Schwanensees“ zu finden. Das Ergebnis dieser Suche war am gestrigen Samstag nun zum ersten Mal zu sehen, im Opernhaus Zürich. Welche Schwierigkeiten eine Rekonstruktion mit sich bringt, wie weit von einem ‚Original’ gesprochen werden kann und was letztendlich doch wieder heutige Konstruktion ist, bleibt ein viel diskutiertes Thema, nicht nur im Tanz. Dass der neue-alte „Schwanensee“ viel Bekanntes aber auch viel Unbekanntes auf die Bühne bringt, bleibt dagegen unleugbar.

Alles, was es hat, bietet das Zürcher Ballett an diesem Abend mit seiner Kompanie, dem Junior Ballett und Studierenden der Tanz-Akademie auf, um dem Märchen von Zauber, Liebe und Verrat neues Leben einzuhauchen. Das Bühnenbild (Jérôme Kaplan), klassisch und inspiriert von den Präraffaeliten, sieht, auch wenn es sich hier nicht um eine Rekonstruktion handelt, doch recht ‚original’ aus. Vieles wirkt auf den ersten Blick bekannt, die Tutus sind zwar etwas länger, aber der Gesamteindruck stimmt. Doch schon nach den ersten Schritten des Corps de ballet ist wohl doch nicht alles so, wie man es kennt. Alles ist ein bisschen schneller, kleiner, feingliedriger. Dass sich die Balletttechnik des 19. Jahrhunderts hauptsächlich über eine ausgesprochen ausgefeilte und temporeiche Fußarbeit definiert, zeigt Alexei Ratmansky deutlich. Lange Linien, weite Bögen und gehaltene Balancen weichen komplexen Sprungkombinationen, weichen Armen und einer Dynamik, die mehr bei den Tänzern selbst bleibt, als in den Raum führt, und über eine deutlichere Bodenhaftung verfügt. Nicht immer fällt den Tänzerinnen und Tänzern diese Umstellung leicht. Während Yen Han im Pas de trois des ersten Aktes in dieser Dynamik regelrecht aufzublühen scheint, über die Bühne wirbelt und dabei im Oberkörper so unendlich leicht und verspielt wirkt, bleibt Andrei Cozlac (Benno) zu sehr in seiner klassischen Attitüde: weite und hohe Sprünge, technisch gut ausgeführt, aber in ihrem raumgreifenden Charakter immer eine Sekunde zu spät. Diese Dualität zieht sich durch das gesamte Ensemble und weist vielleicht auf den markantesten Aspekt dieser Rekonstruktion hin: die deutlichen Differenzen in der Tanztechnik. Dem Zusammenspiel mit Tschaikowskis Partitur, hervorragend gespielt von der Philharmonia Zürich unter Leitung von Rossen Milanov, tut dieses höhere Tempo übrigens ausgesprochen gut.

Alexander Jones ist ein eleganter Siegfried, bekommt außer dem Grand Pas de deux im zweiten Akt, den er souverän meistert, aber nicht besonders viel zu tun. Ganz im Gegensatz zum männlichen Corps, das tänzerisch deutlich mehr gefordert ist als in anderen klassischen Inszenierungen. Viktorina Kapitonova ist eine wunderbar zerbrechliche Odette, die zwischen sphärischer Unwirklichkeit, unschuldiger Mädchenhaftigkeit und tiefstem Leid hin und her gerissen ist. Nicht nur tänzerisch auch darstellerisch überzeugt sie als Odette auf der ganzen Linie, was in diesem Werk wichtig ist. Ist die Rekonstruktion doch mit ihrer großen Anzahl pantomimischer Passagen um einiges narrativer als tradierte Inszenierungen. Auch das dürfte für die meisten Ensemblemitglieder eine Neuigkeit sein, wird die pantomimische Tradition doch fast nur noch in Kopenhagen gepflegt. Aber die Zürcher Tänzer haben sich mit Ratmansky auf dieses Experiment eingelassen. Als schwarzer Schwam ist Kapitonova nicht mehr ganz so mitreißend, kann im Grand Pas de deux dafür aber ihre fabelhafte Technik präsentieren.

Abgesehen von allen Fragen rund um das Thema Rekonstruktion, auch den kritischen, ist Alexei Ratmansky hier eine spannende, temporeiche und mitreißende Inszenierung gelungen. Nicht so technisch wie gewohnt, dafür aber umso tänzerischer zeigt sich dieser neue-alte „Schwanensee“, der sicher nicht nur für die Tänzer des Zürcher Balletts eine Herausforderung war, sondern auch manche Sehgewohnheit hinterfragt.
 

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