„Napoli“ von Lloyd Riggins

„Napoli“ von Lloyd Riggins

Ein Fest für alle Sinne

„Napoli“ von August Bournonville beim Hamburg Ballett

Für Lloyd Riggins ist „Napoli“ kein verstaubtes Museumsstück, für ihn steckt in der schlichten Handlung die Botschaft zeitloser Grundprinzipien des Menschseins: das Vertrauen auf die Kraft der Liebe und in eine höhere Macht.

Hamburg, 09/12/2014

Man kann sich durchaus fragen, ob ein 172 Jahre alter Klassiker wie „Napoli“ von August Bournonville heute noch auf einer Großstadt-Bühne neu inszeniert werden muss. Da ist zum einen die triviale Handlung: Neapolitanischer Fischer (Gennaro) liebt Mädel aus dem Volk (Teresina), verliert sie bei Bootsfahrt im Gewittersturm auf See, sucht und findet sie in der Blauen Grotte, wo sie – zur feenhaften Najade verwandelt – vom Meeresgeist Golfo festgehalten wird, holt sie durch seinen Glauben und seine Liebe wieder ins Diesseits zurück, worauf die Rückkehr mit einem rauschenden Fest, Hochzeit inklusive, gefeiert wird. Da ist zum anderen eine Choreografie aus dem 19. Jahrhundert: viele schnelle Schrittfolgen (der Spitzenschuh war gerade erst erfunden worden), viel Pantomime, viele Ensembles. Was hat so ein Stück heute im Spielplan einer international renommierten Kompanie wie dem Hamburg Ballett zu suchen?

Die Antwort ist einfach: sehr viel. Denn ein solcher Klassiker gehört ebenso ins Repertoire einer großen, international renommierten Kompanie wie Balanchines „Jewels“, Robbins' „Dances at a Gathering“, Makarovas „La Bayadère“ oder Crankos „Onegin“. „Napoli“ bietet dem gesamten Ensemble (im 3. Akt sind bis zu 70 Tänzer auf der Bühne, inklusive Ballettschülern) eine großartige Möglichkeit, den raffinierten Bournonville-Stil zu lernen: diese sehr spezielle Koordination von Kopf-, Arm- und Körperhaltung, diese komplexe Fußarbeit mit ihren rasend schnellen Wechseln, die gerade im Ensemble nur wirken, wenn sie absolut akkurat und rhythmisch sicher getanzt werden. Und diese sehr tänzerische Form der Pantomime, bei der nicht nur Mimik und Gestik sprechen, sondern der gesamte Körper. Neben Klassik und Moderne auch diese Stilrichtung zu beherrschen, ist für jedes Ensemble ein Gewinn. Nicht ohne Grund ist „Napoli“ seit seiner Uraufführung 1842 eine Art Nationalheiligtum des Königlich Dänischen Balletts. Die überschäumende italienische Lebensfreude übt auf Nordlichter bis heute eine besondere Faszination aus.

Das Werk birgt jedoch noch eine weitere Herausforderung, denn der 2. Akt, die Szene in der Blauen Grotte, ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Wenn man dieses Stück auf die Bühne bringen will, muss man also entweder eine der traditionellen Fassungen übernehmen oder den 2. Akt neu choreografieren. Hamburgs Ballettintendant John Neumeier entschied sich für Letzteres, inklusive einer kompletten Neuinszenierung. Denn mit Hamburgs Erstem Solisten Lloyd Riggins hat er für diese Aufgabe einen ausgewiesenen Spezialisten und Kenner an Bord. 1987 war Riggins als 18-Jähriger einer der ersten Ausländer im Königlich Dänischen Ballett (seinerzeit waren die großen Ensembles der Hauptstädte noch stark nationalistisch orientiert). Bournonville tanzen – das durften in Kopenhagen bis dahin nur Dänen. Riggins beherrschte diesen anspruchsvollen Stil allerdings bald schon besser als viele seiner skandinavischen Vorgänger – und brachte dieses Wissen und Können 1995 mit nach Hamburg, wo er sich seither als Tänzer einen Namen gemacht hat. Seit 2009 wirkt er auch als Ballettmeister, ab 2015 wird er John Neumeiers Stellvertreter und somit später womöglich auch dessen Nachfolger. Ein klug gewähltes Debüt also.

Für Lloyd Riggins ist „Napoli“ kein verstaubtes Museumsstück, für ihn steckt in der schlichten Handlung vielmehr die Botschaft zeitloser Grundprinzipien einer wahren Humanität, des Menschseins: das Vertrauen auf die Kraft der Liebe und in eine höhere Macht. Es ist zudem ein bodenständiges, lebensnahes Werk, hier gibt es keine Prinzen und Könige, im Mittelpunkt steht das einfache Volk. „Bei Bournonville geht es nicht um Großartigkeit, um das Bravouröse, sondern um die unterschätzte Schönheit des Menschen in seiner Einfachheit, es geht um die Linie, die Kontur, die der menschliche Körper zeichnen kann“, sagt Riggins. Das erfordere eine leise Virtuosität, keine, bei der das Publikum „ah“ und „oh“ ruft oder aus dem Häuschen gerät. Das ganze solle vielmehr besonders leicht und leichtfüßig aussehen.

Riggins gelingt das aufs Feinste. Er vermag es, das gesamte Ensemble zu tänzerischen Höchstleistungen zu motivieren – allen voran Silvia Azzoni als Teresina und Alexandre Riabko als Gennaro, die sich ebenso temperamentvoll wie stilsicher in das Geschehen werfen. Herausragend auch Christopher Evans mit zwei Soli im Ballabile des 1. Aktes und Madoka Sugai, die im 3. Akt schier explodiert vor Tanzeslust und Lebensfreude, aber ebenso eine delikate Najade sein kann.

Den 2. Akt choreografierte Riggins so, dass er sich nahtlos einfügt in das bunte Treiben der beiden anderen. Er findet eine sanfte, fast lyrisch-andächtige Qualität der Bewegungssprache, die nie kitschig erscheint. Besonders ins Auge sticht hier die Najade Coralla von Mayo Arii, die eine fast schon überirdische Durchlässigkeit und Leichtigkeit entwickelt. Den Meeresgeist Golfo inszeniert Riggins nicht als Poseidon-Verschnitt, sondern als unglückliche, unzufriedene Männerseele auf der Suche nach dem weiblichen Pendant, was Otto Bubenicek kraftvoll herauszuarbeiten vermag.

Und dann der 3. Akt – Italien, wie es tanzt und feiert. Mit dieser nicht enden wollenden Tarantella, der sich, als man schon denkt, jetzt können alle nicht mehr, ein Galopp anschließt und im Tempo noch eins draufsetzt. Bei diesem ausgelassenen Freudenfest müsse man die Bühne eigentlich für das Publikum öffnen, meint Riggins, um mit allen gemeinsam Party zu machen... Auch wenn das in der Hamburgischen Staatsoper sicher ein Wunschtraum bleiben wird, so steht doch fest, dass mit dieser Neuinszenierung ein choreografisches Kleinod Einzug ins Repertoire des Hamburg Ballett gehalten hat.

Neben den sehr farbenfrohen, ansonsten aber angenehm schlicht gehaltenen Kostümen überzeugt das Bühnenbild der Dänin Rikke Juellund vor allem im 2. Akt, wo sie mit gestaffelten Fadenvorhängen die geheimnisvolle Atmosphäre der Blauen Grotte auf die Bühne zaubert, während die Haus- und Felsenandeutungen in den anderen beiden Akten etwas grobschlächtig anmuten. Hier hätte man sich noch mehr Reduktion gewünscht, auch um den Tänzen noch mehr Raum zu geben.

Markus Lehtinen leitete die gut gelaunt aufspielenden Philharmoniker Hamburg mit sicherer Hand durch die romantische Musik der vier Komponisten, die Bournonville beauftragt hatte. Wobei im 2. Akt zur Überraschung des Publikums auch das musikalische Motiv von „Oh du Fröhliche“ mit aufscheint, das damals kein Weihnachtslied war, sondern als „Oh Sanctissima“ ein Hymnus an die Heilige Madonna. Das Publikum feierte diese gelungene Arbeit von Lloyd Riggins und ebenso die bewundernswerte Leistung des gesamten Ensembles mit großem Jubel.

Weitere Vorstellungen am 10., 13. und 31. Dezember 2014 sowie am 10., 11., 13., 15. und 16. Januar 2015
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern