Urzeit und Zukunft - jetzt!

Hofesh Shechter und Johannes Wieland in Kassel

Shechter gibt sich gern einsilbig. Er nennt sein Weltuntergangsdrama „Sun“ und sein Menschheits-Evolutionsszenario „Dog“. Kassels Tanzchef holte sich den israelischen Wahl-Engländer nun ins Haus, mit einer eigenen Kasseler Fassung von „Dog“.

Kassel, 23/11/2014

Hofesh Shechter gibt sich gern einsilbig. Er nennt sein Weltuntergangsdrama „Sun“ und sein Menschheits-Evolutionsszenario „Dog“. Aber der technische Aufwand ist mit peitschenden Donnerschlägen, knisternden Blitzen und Nebelschwaden gewaltig und ohrenbetäubend. Gegenüber „Sun“, vor einem Jahr in St. Pölten und im Sommer in Berlin aufgeführt, ist „Dog“, 2008 für das Scottish Dance Theatre entstanden, allerdings ein heiteres Kammerspiel.

Kassels Tanzchef Johannes Wieland holte sich den israelischen Wahl-Engländer mithilfe seiner neuen Trainingsleiterin Sita Ostheimer, Ex-Tänzerin bei Shechter, ins Haus. Videos der kleinen, Folkwang-geprägten Truppe überzeugten Shechter, eine eigene Kasseler Fassung von „Dog“ zu kreieren. Statt fünf Tänzern stehen nun neun auf der Bühne. Zu Beginn tönt aus dem Off die aus „Sun“ bekannte Märchenonkel-Stimme. Von der Urzeit der Erde ist da die Rede, als die Delphine sich Besseres deuchten denn der Rest der Kreatur und sich einen eigenen Namen, somit eine individuelle Identität gaben. Aber das war ja längst nicht alles. „It's not over yet,“ verspricht die freundliche Stimme.

In der ersten Szene gafft ein Vierbeiner (Martin Ďurov) treuherzig ins Publikum. Es dauert, bis er und die anderen endlich einen Trick finden, auf zwei Beinen die Balance zu halten. Mit runden Rücken und schlenkernden Armen tapsen sie herum, beginnen erst taumelnd, dann wild und ausgelassen zu tanzen. Und so geht es durch die Kulturen der Welt. Der Pulk wedelt mit erhobenen Armen und gespreizten Fingern, wiegt sich, reiht sich. Sie schlittern und gleiten, setzen sich im Schneidersitz wie zur Yoga-Meditation. Ausdruckstanz, Modern Dance, Robotermechanik und Rituale, Salsa und andere Folklore sind auszumachen. Ein Alphorn, Flamencoklatschen und Schnalzen, Hupen und Tröten und „Havana gila“ klingen inmitten des vielschichtigen elektronischen Soundtracks an. Atemlos rennen alle an die Rampe, dann nach hinten. Irgendwann schnipst „der Hund“ Licht und Musik aus. Schön anzusehen ist das alles, harmonisch fließen die Bewegungen - und die Atmosphäre ist längst nicht so bedrohlich wie in „Sun“.

Johannes Wielands vorangestellte Choreografie „Science! Fiction! Now!“ wirkt wie eine Variation in anderer Sprache, ist dem Dialekt und der Dialektik des Deutschen Tanztheaters sehr nah. Um das Hier und Heute geht es ihm, aber auch um die Zukunft der Menschen. Auch diesmal zum Auftakt im Finstern ein Donnerschlag, gefolgt von einer wesentlich eingängigeren Musikcollage als bei Shechter. Auch diesmal steht zu Beginn ein einzelner (Ákos Dózsa) auf der Bühne. Im Zeitraffer, mit stroboskopischem Effekt, führt Wieland ihn aus den Kulissen an die Rampe. Da steht er, lachend und weinend zugleich, mischt sich bald unter die auftretenden anderen mit einem furiosen Solo. In einem gewaltigen, schweißtreibenden Crescendo fährt Wieland alle Facetten und Finessen moderner Tanztechnik auf, von Reminiszenzen an Pina Bausch (mit Diven am Mikrofon und Gräber schaufelnden, buddelnden „Wissenschaftlern“) bis hin zu Elementen des Hip-Hop. Schmusende Paare, lasziv flüsternde Damen in hauchzarten Kleidchen, dynamische Jungs in Alltagsklamotten (Kostüme: Evelyn Schönwald) sorgen - bei allem Ernst des Themas - für viel Unterhaltung. Beeindruckend, was diese kleine Kompanie draufhat, wie sie sich verausgabt, welche Vielseitigkeit - von Hans Werner Henzes „Orpheus“ bis Hofesh Shechter! - sie samt ihrem Chefchoreografen in diesen acht Jahren erarbeitet hat!
 

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