„Zauberberg“von Xin Peng Wang

„Zauberberg“ von Xin Peng Wang

„Zauberberg“ in Dortmund

Wang lässt Manns „Sorgenkinder des Lebens“ tanzen

Nach dem chinesischen Epos „Der Traum der Roten Kammer“ beeindruckt das Ballett Dortmund nun mit Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ - ein grandios gelungenes Gesamtkunstwerk!

Dortmund, 09/11/2014

„Sorgenkinder des Lebens“ nennt Thomas Mann die Patienten des Tuberkulose-Sanatoriums „Berghof“ in Davos. Schwerkranke, Sterbende und lebensscheue Hypochonder finden hier im gemeinsamen Zelebrieren ihrer „Heiligen Krankheit“ eine Heimat. Wie Aasgeier lauern Bergbauern mit riesigen, derben Holzschlitten, um die Leichen hinab ins Tal zu transportieren. Xin Peng Wang vereint sie alle zu einem makabren, lustvollen Totentanz.

Dramaturg Christian Baier hat Manns siebenteiligen, 750 Seiten starken, sprachgewaltigen Roman nach tanzbaren „Motiven“ - jenseits der ausführlichen Beschreibungen und philosophischen Diskussionen - durchforstet und ist dank theatralischen Gespürs fündig geworden. Aus 51 Roman-Kapiteln schrieb der Wiener ein nahezu perfektes Szenario in neun Szenen, die zwischen der Ankunft Castorps in Davos und dem „Donnerschlag“, dem Ausbruch des 1. Weltkriegs, nicht strikt Manns Chronologie folgen.

Die Personenauswahl ist exzellent - allesamt Patienten, die Mann mit wenigen treffenden Sätzen skizziert: der 23-jährige hanseatische Ingenieur Hans Castorp - der statt drei Wochen als Besucher sieben Jahre als Patient bleibt - und sein dem Tode geweihter Cousin Joachim Ziemßen, der humanistische Literat Ludovico Settembrini und sein Disputant und Duellant Nephta, ein Ex-Jesuit, dazu die ständig kichernde Nelly, in die Joachim sich verguckt hat, und - samt handfestem Liebhaber Mynher Pieter Peppercorn - die schöne Russin Clawdia Chauchat, der Castorp schon bei ihrem früheren Aufenthalt den Hof machte. Nur die beiden „Zauberer“ dieser Bergwelt vermisst man - im Gegensatz zu dem Geißendörfer-Film von 1982 - in diesem Zauberberg-Ensemble: Hofrat Behrens, den geschäftstüchtigen, etwas schmierigen, sich jovial gebenden Chefchirurgen, und den diabolischen Psychiater und Hypnotiseur Dr. Krokowski.

Wangs Ballette profitieren stets von exquisiter Musik. So verblüffen die Dortmunder Philharmoniker unter Motonori Kobayashi diesmal mit Symphonischem und Kammermusik des hierzulande allenfalls durch diverse (ausländische) Einspielungen bekannten Esten Lepo Sumera (1950-2000). Die bizarr dissonante, minimalistische Klangstruktur seiner Sinfonien und der lyrische Charme seiner Klavier- und Violin-Kompositionen hebt Manns Geschichte ins Heute und entgeht so der latenten Gefahr von Pathos oder gar Biederkeit. Der aus dem Off geschmetterte Männerchor des von Mann neben vielen klassischen und romantischen Musikstücken zitierten Schubert-Liedes „Am Brunnen vor dem Tore“ ist in dieser Form ein sehr effektvoller Hinweis auf die subtile sprachliche Ironie, die in Manns Erzählung immer wieder aufblitzt.

Wangs Kompanie wird immer besser. Seine choreografische Handschrift wirkt hier durch die darstellerische Ausdruckskraft der Solisten vielfältiger und natürlicher. Dmitry Semionov porträtiert Castorp in zwei langen Soli mit größter Eleganz, vornehmer Zurückhaltung und leichter Melancholie. In dem langen Pas de deux einer sexuellen Vereinigung mit Clawdia - bei Mann nur ein gewagtes „Du“ beim Flirt am Faschingsabend - überzeugt er ebenso wie in kurzen Begegnungen mit der Russin, mit deren Darstellung Monica Fotescu-Uta der langen Reihe ihrer solistischen Auftritte ein neues Glanzlicht hinzufügt. Höhepunkt ist der Pas de trois von Castorp, Clawdia und des erfrischend handfesten Pepperkorn (Andrei Morariu). Schade nur, dass die Tür, durch die die exaltierte „Diva“ den Speisesaal betritt, nicht gläsern klirrend ins Schloss fällt. Auf der Dortmunder Bühne ist sie leider aus Pappe oder Sperrholz. Das schmälert den Effekt. Allerdings wetzt Monica Fotescu-Uta die Scharte sogleich aus. Mit rothaariger Flechtfrisur und in langem fließendem Kleid, das ihre schlanke Gestalt umschmeichelt, macht sie mit großer Aura auf sich aufmerksam. Glanzvoll der Pas de trois der beiden Rivalen mit der schönen Russin.

Zwar versteht man nicht, worüber der Humanist (etwas zu sehr aufgesetzt chaplinesk: Giuseppe Ragona) und der Jesuit (fast rührend: Arsen Azatyan) sich derart zerstreiten, dass es zum Duell kommt, in dem der totkranke Nephta sich selbst erschießt. Aber die Gestik und die langen Wege voneinander weg und aufeinander zu gehören zu den spannendsten Momenten des zweistündigen Abends. Während Jelena Ana Stupar (Nelly) undankbare Kicher-Auftritte charmant absolviert, stirbt Dann Wilkinson (Ziemßen), Mitglied des neu gegründeten Junior-Balletts NRW, sehr dramatisch. Das Corps de Ballet profiliert sich vor allem in der schönsten Szene, dem makaber-moribunden Faschingsball (Masken und Kostüme: Alexandra Schiess), und in der enthemmten Walpurgisnacht. Etwas kunstgewerblich dagegen kommt, wie teilweise auch die aufwändige Bühnengestaltung von Frank Fellmann, das Bodenballett der Leichen im Prolog rüber. An Wangs „Rote Kammer“ mit militärischen Aufmärschen zu Ehren Maos erinnert das Finale: authentische Szenen kämpfender Soldaten bei Ausbruch des 1. Weltkriegs, der das Ende des Sanatoriums bedeutet, werden dokumentarisch projiziert.

Insgesamt ist dem Ballett Dortmund mit „Zauberberg“ ein grandioses Gesamtkunstwerk gelungen.
 

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