Eiskalte Zuckungen und Spitzenschuh-Marter

Superber Doppelabend zwischen den Ballettgiganten von München und Stuttgart

Vier Jahre lang hat sich Robert Conn um die international gefeierte „Romeo und Julia“-Version „Radio and Juliet“ von Edward Clug bemüht. Nun stellt er das außergewöhnliche Stück dem neuen Ballett der Stuttgarter Solistin Katarzyna Kozielska „Palpitation“ gegenüber.

Augsburg, 04/05/2014

Nein, es ist beileibe kein „verflixtes“ siebtes Jahr für Augsburgs amerikanischen Ballettchef Robert Conn, ehemals Stuttgarter Solist. Mit Michael Pinks Handlungsballett „Das Bildnis des Dorian Gray“, der veritablen kleinen Retrospektive des Werks von Itzik Galili „Schattenspiele“ und nun dem superben Doppelabend „Where I End and You Begin“ gelingt ein Programm, das Conns 14-köpfige Truppe zwischen den Ballettgiganten in München und Stuttgart ins beste Licht rückt.

Vier Jahre lang hat sich Conn - nicht choreografierender „Manager“-Ballettdirektor wie Reid Anderson - um die international gefeierte Romeo und Julia-Version „Radio and Juliet“ von Edward Clug bemüht. Nun stellt er das außergewöhnliche Stück für sechs Männer und eine Frau dem neuen Ballett für sechs Frauen und einen Mann der Stuttgarter Solistin Katarzyna Kozielska „Palpitation“ gegenüber - zwei kraftvolle Choreografien, die mit außergewöhnlichen choreografischen Mitteln und Techniken menschliche Beziehungen, Verletzungen, Verhaltensweisen umkreisen.

Eiskalt, mit der mafiosen Aura furchterregender Brutalität und Aggressivität treten die Männer lautlos durch eine Lücke in der Rückwand aus Betonquadern - schwarze Anzüge mit offener Jacke über der nackten Brust, gegen die der Stoff im Tanz klatscht. Mal in Zeitlupe, dann in rasantem Tempo winkeln sie die Arme eckig ab, reißen sie hoch, lassen die gespreizten Finger im kalten Licht wie messerscharfe Fächer vibrieren. Blitzschnell stechen die Fußspitzen wie Dolche in den Boden. Mittendrin in Hot Pants und Mieder eine Frau - rassig, drahtig, selbstbewusst: Julia, die beschlossen hat, nicht neben Romeos Leiche zu sterben, sondern in die saure Zitrone zu beißen und sich dem Leben zu stellen. Kurze Flashbacks resümieren ihre Geschichte, Shakespeares Liebestragödie: mit Gesichtsmasken, wie Ärzte und Millionen Menschen in smogverpesteten Städten sie tragen, kommen die Mafiosi zum Ball. Jeder könnte Romeo sein - Yadil Suarez Llerena hält die schöne wilde, von ihm fortstrebende, stolze Spanierin Yvonne Compaῆa Martos beim Ball im Arm; Joel Di Stefano darf sie küssen und zu Pater Lorenzo führen. Elegant und gewandt wie fernöstliche Sportkämpfer gehen die rivalisierenden Gangs aufeinander los. Wie ein zu Tode getroffener Hirsch springend, besinnungslos kreisend, schließlich auf der Seite liegend und krampfartig zuckend verendet Mercutio (Riccardo De Nigris).

Frappierend modern wirkt Clugs Tanzstück von 2005 nicht nur durch die zackige Körpersprache, die sein Markenzeichen werden sollte, sondern auch durch das effektvolle Lichtdesign (Clug mit Marco Vitale) und den Soundtrack aus Songs der alternativen Britpop-Gruppe Radiohead und Videos zu Beginn und am Schluss. Eine Kamera fährt zittrig wie in Stummfilmzeiten über eine Hausfassade der italienischen Renaissance, schwenkt auf die Tür zu einem schäbigen Appartement von heute - irgendwo. Eine junge Frau auf einer Matratze wird sichtbar. Starr der Blick in Nahaufnahme. Ist sie tot? Am Ende hat sie ihr zweites Leben gelebt, liegt in einer luxuriösen Badewanne (so starr wie in einem Sarg) und blinzelt gelassen an ihrem Lover vorbei.
Vier Jahre warb Robert Conn um die Deutsche Erstaufführung dieser weltweit gefeierten Choreografie aus Maribor - nun hat er auf ganzer Linie gewonnen!

So maskulin Clugs „Radio and Juliet“ - so feminin ist Kozielskas „Palpitation“ (Herzklopfen). Auch hier ein Pas de deux eines Liebespaars (Jiwon Kim und Jacob Bush). Auch hier Brutalität: plötzlich wird der Mann rabiat, verdreht der Liebsten den Arm, zwingt sie in die Knie, schlägt sie. Verstört flieht sie in ein Frauenhaus mit fünf Damen in hautfarbenen, aufreizend geschnittenen Dessous (eher nuttig, was Katharina Diebel sich da einfallen ließ). Hier wird die Geschundene lernen, sich zu behaupten, dem Mann erhobenen Hauptes entgegen zu treten. Weiche Port de bras, klassische Posen und elegische Ensembles dominieren die Choreografie dieser Stuttgarter Solistin aus Polen, die sich seit drei Jahren unter den Fittichen der Noverre-Gesellschaft choreografisch ausprobiert. Hier stellt sie eine aktuell brisante Situation sehr direkt und klar an den Pranger. Der Spitzenschuh, der immer wieder zur Seite kippt oder den Körper vornüber zieht, wird zur Chiffre für Marter und Folter. Womöglich wächst da eine neue Daniela Kurz oder Bridget Breiner heran?
 

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