NDT1

Ludwigsburg, 16/02/2000

Erst lange nachdem sich der Vorhang geschlossen hat, wird der Applaus stärker und stärker. Es ist, als ob die Zuschauer im ausverkauften Ludwigsburger Forum-Theater einer Huldigung an Terpsichore, der Göttin des Tanzes, beigewohnt hätten und die Würde der Weihestunde nicht durch unangemessenen Jubel beeinträchtigen wollten. Schließlich brechen sie doch in Hochrufe aus. In der Tat hatte das Gastspiel des Nederlands Dans Theaters 1 den Rang eines ungewöhnlichen Erlebnisses.

Nach den voraus gegangenen triumphalen Auftritten seiner Senioren- und Juniorenformationen NDT3 und NDT2 bewies die Haupttruppe nun erneut, dass sie in der internationalen Tanzwelt einzigartig ist. Fünfzig Minuten Pausen wurden durch nur siebzig Minuten Tanz entgolten – die Holländer, neuerdings unter der Leitung von Marian Sarstädt, gehen in Sachen künstlerischer Seriosität nicht den geringsten Kompromiss ein. Nach Paul Lightfoots „Stilleven“ in der Mitte des Programms musste die vollständig mit feinem Sand bedeckte Bühne aufwändig gereinigt werden. Das hätte sich auch an das Ende des Abends verlegen lassen. Damit wäre allerdings die sakrale Wirkung des abschließenden „Bella Figura“ von Jiří Kylián stark beeinträchtigt worden.

Lightfoot, Tänzer der Compagnie, schildert in seinem Stück vermutlich das Ende der Welt oder wenigstens ihrer Kreaturen. Acht Damen und Herren kämpfen sich, überwiegend allein, mit krakeligen und wellenförmigen Bewegungen zu Barockmusik von Vivaldi, Purcell, Bach und anderen durch Sand, husten im reichlich aufsteigenden Staub, umklammern einander, während die wandernde Sonne schließlich glühend über ihnen verharrt und nur noch ein Paar übrig bleibt. Ein beeindruckendes Stück.

Ihm war Hans van Manens „Two Gold Variations“ vorausgegangen, eine Choreografie für sieben Paare, die wie ein Emanzipationsprozess der Frauen anmutet. Sie werden zur rhythmisch prägnanten Musik von Jacob ter Veldhuis mit van Manens überaus typischen Bewegungen von den Männern transportiert und manipuliert, bis am Ende nach einem langen Pas de deux ein Mann bittend auf dem Boden liegt, während sich seine Partnerin aufrichtet und selbstbewusst ihre Haare öffnet. Sie bedarf nun keiner Führung mehr. Endlich „Bella Figura“ – ein Werk zwischen Träumen und Wachen, Schein und Realität, in dem nichts sicher ist, in dem die Tänzer aus dem vagen Dunkel auftreten und wieder von ihm aufgesogen werden. Schwarze Vorhänge senken und heben sich, gleiten seitlich auf die Bühne, bedrängen die Tänzer, schaffen kleine, enge Räume von erregender Wirkung.

Während Barockmusik erklingt, schleudern die Herren ihre Partnerinnen kreiselnd um sich, zuweilen scheinen sie auf unsicherem Boden zu stehen, wenn einer zu wanken droht, dann springt ihm ein anderer helfend bei. Hier ist nichts mehr fassbar, der Tanz entgleitet ins Ungewisse, die Damen und Herren mit nackten Oberkörpern in weiten, roten Röcken, das Tanzen wie auf einer Spieldose, die berührungslosen Liebkosungen, die sich immer wieder zu kurzen Pas de deux vereinenden Paare, schließlich die beiden Feuer wie in einem heidnischen Tempel – Kylián hat ein Werk geschaffen, das sich jeder Deutung entzieht und das Gefühl eines erhabenen Geschehens hervorruft, dem zuzuschauen einem Sakrileg gleichkommt. Ein singuläres Ereignis.

Kommentare

Noch keine Beiträge