Provenzalische Hochzeit und venezianischer Tod

Marius Petipas „Raymonda“ und John Neumeiers „Tod in Venedig“ auf DVD

Zwei Klassiker des 19. und 21. Jahrhunderts sind kürzlich bei Arthaus auf DVD erschienen: Petipas „Raymonda“ und Neumeiers „Tod in Venedig“. Dabei ist das ältere Werk gewissermaßen das neuere: Sergej Vikharevs Rekonstruktion von Petipas letzter Großproduktion wurde im Jahr 2011 an der Mailänder Scala erstmals aufgeführt. Vikharev versucht in seiner Fassung, die Zuschauer erfahren zu lassen, wie das Ballett bei seiner Uraufführung im Jahr 1898 am Hof des Zaren in Sankt Petersburg ausgesehen haben mag. Kostüme, Bühnenbild und Choreographie wurden mittels der Notationen aus der Sergeyev-Sammlung in Harvard so getreu wie möglich rekonstruiert.

Das Werk aus einer anderen Zeit mag auf den heutigen Zuschauer zunächst befremdlich wirken, nicht nur aufgrund der extravaganten Bühnenbilder und Kostüme – die „mittelalterlichen“ Hauben und Zöpfe, schleiergeschmückten Spitzhüte, bodenlangen Ärmel, langen Federn auf dem Kopf, kunstvoll gewundenen Säulen und kampfgerüsteten Ritter auf stolzen Rossen sind bis heute keineswegs ausgestorben. Ungewöhnlicher für das moderne Auge sind die ausführlichen Pantomimepassagen, die nicht immer ganz verständlich sind – so erschließt sich dem uneingeweihten Zuschauer weder der Inhalt der Briefe, die mehrmals bedeutungsschwer ausgerollt werden, noch die Erzählung von der weißen Dame, die als lebende Statue die meiste Zeit bewegungslos auf einem Podest verbringt. Tatsächlich waren zu Petipas Zeiten die wenigsten für die Handlung relevanten Protagonisten solistisch tanzend tätig.

So begnügt sich der orientalische Verführer Abderahman (Mick Zeni), anstatt sich selbst in den tänzerischen Wirbel zu werfen, mit einigen leidenschaftlichen Gesten und durchdringenden Blicken, während der stolze Kreuzritter Jean de Brienne im heldenhaften Einsatz für die Tugend seiner Verlobten zwar das Schwert, aber erst ganz zum Schluss das Tanzbein schwingen darf. Jean de Briennes Variation im Grand Pas hongrois ist der einzige Petipa-fremde Einschub in dieser Rekonstruktion, und Friedemann Vogel, langbeiniger und sprunggewaltiger Gasttänzer vom Stuttgarter Ballett, schöpft diese paar ihm gegebenen Minuten des Ruhmes mit dem glücklichem Lächeln aus, das ihm als triumphierendem Helden gebührt. Wen stört es dabei, dass weniger sein kämpferisches Geschick als eine tückisch mit einem Blendspiegel hantierende lebende Statue Abderahman außer Gefecht setzt? Zumindest erlaubt es die Kameraführung hier nicht, den wahren Grund für Abderahmans Verscheiden zu erkennen – da im Film kein Schwertstreich zu sehen ist, muss man annehmen, dass der finstere Fremde durch das von der weißen Dame ausgehende christliche Licht der Erkenntnis ins Jenseits befördert wird.

Natürlich ist trotz aller Historizität das, was man hier auf der Bühne sieht, ganz und gar nicht mit einem Tanzstück zu Petipas Zeit zu vergleichen. Die zarte und schlanke Olesia Novikova, die als aus Sankt Petersburg geladene Raymonda ihre Beine graziös in alle Richtungen zu sehr hohen Dévéloppés entfaltet, ist ein vollkommenes Beispiel der heutigen Mariinsky-Ballerina, die nicht viel mit Körperbau und Technik ihrer Kolleginnen ein Jahrhundert zuvor gemein hat. Anders als ihre männlichen Kollegen hat sie in zahlreichen Variationen die Gelegenheit, sich im besten Licht zu zeigen. Dabei bewundert man vor allem ihre Stand- und Sprungfestigkeit auf Spitze, besonders in einer Variation, in der sie eine ganze Serie von Entrechats quatre auf Spitze springt und landet. Unter den anderen seltenen Elementen in ihrer Choreografie findet man auch eine auf Spitze geendete Pirouette in der Coda des Grand pas hongrois.

Eine Vielzahl von Charaktertänzen begleitet jeden Akt: so lässt beispielsweise Abderahman wie ein zweiter Rothbart Moriskentänzer, mit Stöcken bewehrte Sklaven, junge Mädchen mit Bechern, Spanier und Sarazenen auftreten und im Hochzeitsakt tanzen ungarische Paare und eine Kinder-Mazurka dem Hauptpaar voran. Zahllose Kreuzritter, Troubadoure, Amoretten, Damen mit Flügelhelmen, die als lebendes Dekor auf Hockern stehen, sowie andere Tänzer und Statisten in phantasievollen Kostümen komplettieren das bunte, vollkommen heterogene Bild, das sich keineswegs irgendwelchen Regeln der historischen, stilistischen oder geographischen Wahrscheinlichkeit beugt.

Die Kameraführung mit zahlreichen Zooms beispielsweise auf Gesichter und Füße wählt zwar den Blickpunkt nicht immer ganz glücklich aus, aber sie ist dennoch meist schlüssig und überzeugend, mit einigen originellen Ansichten beispielsweise aus der Vogelperspektive. Auch das Orchester, das Glazunovs herrliche Partitur überzeugend interpretiert (Dirigent: Michail Jurowski) kommt zu einigen Ehren, doch wirkt es etwas irritierend, wenn plötzlich während Raymondas Grand Pas-Variation die Hände des Pianisten eingeblendet werden – dies lenkt ab und erweckt beinahe den Eindruck, als sei die Variation allein zu langweilig. Nach „Le Corsaire“ im Bolschoi und im Bayerischen Staatsballett, „Le Réveil de Flore“, „La Bayadère“ und „Dornröschen“ im Mariinsky, „Coppelia“ in Novossibirsk und „Esmeralda“ im Bolschoi ist dies ein weiteres Petipa-Ballett, das möglichst werkgetreu – mit allem, was so eine Arbeit trotz allem an künstlerischen Entscheidungen und Veränderungen mit sich bringt – vor ein hundert Jahre jüngeres Publikum gebracht wird. Auch wenn einige Teile des Stückes vielen heutigen Zuschauern unverständlich oder zu ausführlich scheinen mögen, ist dies in jedem Fall eine beachtliche Arbeit, die nicht nur für Balletthistoriker von großem Interesse ist.

Wenn Petipa das klassische Ballett zu einer Apotheose geführt hat wie Jean de Brienne seine Verlobte im letzten Bild von „Raymonda“, kann man Ähnliches von John Neumeier sagen. Seine Domäne ist – trotz aller gelungener abstrakter Werke, beispielsweise sein wundervolles Stück „Dritte Symphonie von Gustav Mahler“ – vor allem das Handlungsballett, meist auf literarischer Grundlage. Sein Talent, eigentlich nicht Tanzbares durch Tanz auszudrücken, hat in „Tod in Venedig“ im Jahr 2003 einen Höhepunkt gefunden. In diesem Ballett gelingt es Neumeier durch die Betonung unterschwelliger Elemente der Novelle, vor allem Mythos und Psychologie, Aschenbachs einsamen Gedanken und Gefühlen auf der Bühne sicht- und hörbare Form zu geben. Erstaunlich ist dabei, mit welcher Subtilität Neumeier scheinbar „unübersetzbare“ Elemente in Manns Werk in seine Kunstform umzusetzen vermag, und dabei stets Bilder schafft, die gleichzeitig bedeutungsschwer, ästhetisch ansprechend und emotional berührend sind. So gleicht er zum Beispiel den Mangel an weiblichen Protagonisten in der Novelle aus, indem er einige höchst phantasievolle Männer-Pas de deux und Pas de trois kreiert. Lloyd Riggins in der Rolle Aschenbachs ist in jeder Hinsicht atemberaubend, sowohl tänzerisch – er schafft es, fast das ganze Ballett über auf der Bühne zu sein und zu tanzen – als auch darstellerisch. Keinem weniger expressiven Künstler wäre es gelungen, Aschenbachs komplexe Gefühle und Gedanken so deutlich in Gesicht und Haltung zu reflektieren und damit sein Innenleben dem Ballettzuschauer zugänglich zu machen.

Besondere Erwähnung verdient auch Ivan Urban als einfühlsames alter ego Aschenbachs und das perfekte Duo Jiri und Otto Bubenicek, die den Todesboten der Novelle ein unheimliches Doppelgesicht verleihen. Edvin Revadzov als Tadzio glänzt durch seinen Unschuldsblick, der es Neumeier erlaubt, die Beziehung zwischen den beiden Protagonisten trotz intensiven Körperkontaktes nicht als real-erotische darzustellen. Die Musikauswahl von Bach und Wagner erweist sich als gelungen und bezieht sich – wie viele Elemente von Neumeiers Ballett – auf Nietzsches Theorie des Apollinischen und Dionysischen. Die Gegenüberstellung der beiden Werke zeigt, wie tiefgehend sich das Ballett im Lauf eines Jahrhunderts verändert hat – von der Vollendung der klassischen Form und Technik zu einer wundervollen extra für das Ballett entstandenen Komposition zu einem modernen Ballett zu einer geschickt zusammengestellten Collage von Stücken bedeutender Komponisten, in dem die Technik stets im Dienst der Dramaturgie und der auszudrückenden Emotion steht. In beiden Stücken geht es um die Psychologie des Protagonisten, doch im ersten Ballett, das sich noch in einer lächelnd hellen Parallelwelt abspielt, verschwindet die dunkle erotische Versuchung wie ein verführerischer Traum durch das Eingreifen apollinischen Ritters, wohingegen der moderne Ballettheld von diesen dionysischen Kräften überrollt und zerstört wird. Schließlich spielt die eigentliche Handlung in „Raymonda“ eine geringe Rolle gegenüber dem großartigen Spektakel und den vielfältigen und mit höchster Kunst zelebrierten Tänzen, während in Neumeiers Stück der leidende Künstler selbst im Mittelpunkt steht und seine Psyche bis in ihre verstecktesten Winkel ausgeleuchtet wird. Beides sind Meisterwerke ihrer Art – und man kann es nur begrüßen, dass sie nun für ein breiteres Publikum auf DVD verewigt wurden.

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