Ein Denkmal für Petr Pestov

Seine Schüler erinnern sich an ihren Lehrer

Stuttgart, 25/10/2011

Am 31. Juli dieses Jahres starb der berühmte russische Ballettlehrer Petr Pestov. Zu seiner Trauerfeier in Stuttgart kamen viele seiner früheren Schüler aus aller Welt, dabei entstand der Gedanke, ihrem Lehrer durch ihre Erinnerungen ein Denkmal zu setzen. David Russo, Mikhail Soloviev und Antonio Di Carmine haben aufgeschrieben, wie sie der Pädagoge und der Mensch Pjotr Antonowitsch Pestov geprägt hat. David Nicolas Russo war von 1996 bis 1998 Schüler von Petr Pestov. Er tanzte am Saarländischen Staatstheater und am Münchner Gärtnerplatztheater, heute ist er freier Choreograf und Dozent an der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik München.

Ich bin Pjotr Antonowitsch – so habe ich im Nachhinein gelernt ihn zu nennen, er mochte es nicht besonders, Herr Pestov genannt zu werden – zum ersten Mal im September 1996 im Ballettsaal der John-Cranko-Schule begegnet. Ich kam neu in die Schule, sprach kaum Englisch, gar kein Deutsch und Russisch sowieso nicht. Ich war sechzehn Jahre alt, hatte große Lust zu lernen, aber keine Ahnung von Ballettgeschichte. Ich wusste nur, dass die John-Cranko-Schule eine sehr bekannte Institution war (ohne wirklich zu wissen, wer John Cranko war) und hatte Pertti Virtanen, meinem finnischen Lehrer in Italien, einfach vertraut, dass ich hier die zusätzliche akademische Ausbildung finden würde, die ich noch brauchte.

Ich war frisch angekommen und Pjotr Antonowitsch war auch erst seit Kurzem da, er sprach kein Englisch oder Deutsch (das hat sich wohl mit den Jahren auch nicht wirklich geändert). Im Unterricht wir waren nur vier Jungs: Jorge Nozal, Ilya Kozadayev, Sebastian Wagner und ich, später kamen noch Sasha Kozadayev und Viktor Sherbakov dazu. Unser neuer Lehrer kommunizierte hauptsächlich mit Ilya und alle anderen machten es einfach nach. Ilya zeigte die erste Übung an der Stange, face à la barre – diese Übung sollten wir seitdem an jedem Tag unser Schulzeit ausführen, manchmal sogar mehrere Male am Tag, bis zu den Tränen. Sie ermöglicht am Anfang der Stange eine kontinuierliche Arbeit, was für eine gesunde Aufwärmphase und für einen meditativen und konzentrierten mentalen Zustand sorgte. Mein Lehrer kam nah zu mir und fragte mich: „Verstehen?“ Ich konnte kein Deutsch und verstand: „First Day?“ Und antwortete mit ja. Und es ging los, mein Abenteuer Pjotr Antonowitsch Pestov.

Ein paar Wochen gingen vorbei und mir war immer noch nicht klar, wer mein Lehrer in Wirklichkeit war, es mussten erst ein paar kindische Ereignisse stattfinden, bevor ich Ilya Kozadayev näher kennen lernte und vieles von den Ballettschulen und ihrer Geschichte erfuhr. Ich erinnere mich, wie mich Ilya eines Tages fragte: „Weißt du eigentlich, wer dein neuer Lehrer ist?“. Ich antwortete mit nein, ich nähme an, er sei ein guter Lehrer, sonst würde er nicht an so einer renommierten Schule unterrichten. Er sagte in sehr ernsten Ton: „Pjotr Antonowitsch is the best living teacher for boys in the whole world. Some of the best dancers of the world all graduated by him. You have no idea how lucky you are to be in his class”.

Unser Lehrer war gut drauf, war lustig und sehr lebendig. Er konnte auch ernst werden, aber nur dann, wenn er merkte, dass wir nicht alles geben. Er konnte Faule nicht leiden und hat immer darauf bestanden, dass wir Spott und kleine Beleidigungen nicht allzu ernst nehmen. Er hat oft ausgetestet, dass wir uns nicht zu wichtig nehmen, so hat er damals schon unsere Seele auf die Arbeitswelt im Theater vorbereitet.
Im Allgemeinen bin ich immer sehr gutgläubig gewesen und hatte keine Meinung über meine Lehrer, ich habe sozusagen ein angeborenes Vertrauen in meine Lehrer, zumindest am Anfang. Das war meiner Meinung nach mein größtes Glück mit Pjotr Antonowitsch: Er sah, das ich fleißig war und dass ich alles machte, was er sagt; ich vertraute ihm blind, ohne wirklich zu wissen, was er uns beibringen wollte, ohne ihn wirklich zu verstehen.

Die Sprache war natürlich eine große Barriere und für mich auch ein wenig der Knackpunkt, mit dem ich seine Aufmerksamkeit auf mich richten konnte. Eines Tages, wir waren im Saal, ich hob den Arm und fragte ein bisschen zögernd auf Russisch, ob ich zur Toilette durfte. Nach einem „Wow David!” antwortete er: „Natürlich darfst du gehen, geh, geh doch!”. Wir hatten drei ununterbrochene Unterrichtstunden täglich mit Pjotr Antonowitsch, das ist sehr ungewöhnlich in Schulen. Das Konzept wurde von unserem Schuldirektor Herrn Ursuliak entworfen, um dem Lehrer möglichst viel Spielraum für die Gestaltung eines guten Unterrichtsplans zu geben. Am Anfang des Jahres oder jedes Mal nach einer Ferienperiode konnte man sich auf den Kraftaufbau und die Technik konzentrieren, und wenn wir so weit waren, gab es dann genug Zeit, um sich jeden Tag dem Erlernen von Variationen und dem klassischen Repertoire zu widmen.

Herr Pestov hatte eine besondere Art, seine Schüler herauszufordern, er gab uns ständig Spitznamen und stellte immerzu unseren Charakter und unser Temperament auf die Probe. Ich zum Beispiel wurde nicht selten als „schwarze fette Spaghetti“ betitelt (was sich später in der privaten Bekanntschaft in „schwarze Sonne” änderte). Man muss dazu sagen, dass ich im Vergleich mit Ilya, der genau so groß wie ich war, wesentlich viel mehr „Babyspeck” am Leib hatte. Das hat sich mit der Zeit sehr verändert, ich wurde zunehmend dünner und die harte Arbeit zeigte schnell Erfolge. Ich lernte schneller Russisch als Deutsch und obwohl ich nicht wusste, was so besonders an seinem Unterricht war, ahnte ich mit ein bisschen Vertrauen und viel Fleiß, dass da etwas Einmaliges in meinem Leben passierte.

Timing und Musikalität waren starke Merkmale seines Unterrichts, wir übten wochenlang die gleichen Kombinationen, bis wir sie vollkommen musikalisch zusammen ausführen konnten. Sie waren sehr schwierig und daher nie langweilig, er bestand darauf, dass wir uns gegenseitig spüren. Er diskutierte oft mit dem Pianisten und legte manchmal sehr lange Pausen während einer Übung ein, natürlich in den unmöglichsten Beinhaltungen, aber das verschaffte uns Kraft und klare Bilder im Kopf.

Während meiner gesamten Ausbildung habe ich nie versucht, seinen Unterricht zu analysieren, das bedarf eines sehr analytischen Verständnisses und einer sehr umfangreichen Kenntnis in Ballettpädagogik und in der russischen Balletttradition. Natürlich konnte ich sehen, dass bestimmte Übungen eine Art Standard darstellten, aber ich fragte mich nicht viel hinterher. Wie es oft ist bei jungen Menschen, die eine starke Vision und einen Traum haben, war ich zunehmend dogmatisch, was mein Lehrer angeht: Er war einfach der Beste und seine Übungen die einzigen, die man brauchte, das Warum war nebensächlich. Erst seit meinem pädagogischen Aufbaustudium, das ich letztes Jahr an der Hochschule für Musik und Theater in München abgeschlossen habe, wo der pädagogische Unterricht von Alex Ursuliak gehalten wurde, habe ich angefangen, Pjotr Antonowitschs Methodik kritisch zu betrachten. Das hat nicht etwa mein Idol zerstört, sondern es hat meine Begeisterung noch verstärkt.

Pjotr Antonowitsch war ein Genie der Pädagogik. Klare Bilder, Musikalität, viel Arbeit, natürlich Spaß und eine bedingungslose Leidenschaft für den Beruf waren die Hauptmerkmale seiner Arbeit. Ich habe viele Geschichten gehört, dass seine Zeit als Lehrer in Moskau von einer strengeren Art geprägt war. Ich mag gerne glauben, dass ein großer Teil davon sogar stimmt, aber der Lehrer, den ich kennen lernte, war ein liebevoller und geduldiger Mann, der uns seine ganze freie Zeit widmete. Sicherlich waren wir auch eine Art nette Gesellschaft, denn wir (Ilya, Sasha und ich) mussten am Abend gegen 17.00 Uhr noch bei einem zusätzlichen Training der jüngeren Klasse von Pjotr Antonowitsch mitmachen. Natürlich hatten wir nie eine Ahnung, wie lange dieses zweite Training dauern würde. Meistens mussten wir nur die Stange mitmachen, aber das war mehr als ausreichend. Dann kam er normalerweise zu einem von uns, ließ ihm seinen Hausschlüssel in die Hand fallen und sagte, wir sollten genügend Kartoffeln und Zwiebeln schälen und schneiden und dann auf ihn warten. Er wusste, dass wir alle rauchten und gab uns das Recht, seine Zigaretten zu rauchen! Manchmal denke ich, er bevorzugte unsere Gesellschaft vor der der meisten anderen Pädagogen in der Schule, und teilweise waren wir auch diejenigen, die sich um ihn gekümmert haben. Etwa bei der schwäbischen Kehrwoche, oder beim Installieren eines neuen Videorecorders und Fernsehers. Er war wirklich einer der letzten Dinosaurier, er verkörperte eine väterliche Figur, war ein Idol und ein Mentor. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die bereit sind, ihre Bestimmung voll und ganz auszuleben und ihr Leben einer einzigen Vision zu opfern. Ich bin dankbar, dass ich ihn noch erleben durfte – Pjotr Antonowitsch, wir vermissen Sie.

Mikhail Soloviev hatte von 1998 bis 1999 Unterricht bei Petr Pestov. Er tanzt heute im Stuttgarter Ballett.

Pjotr Antonowitsch Pestov – der Meister aus meinen Augen Als Pjotr Antonowitsch unsere Gruppe Jungs übernommen hat, war es für uns das letzte Ausbildungsjahr in der John-Cranko-Ballettakademie – das Jahr des Abschlusses. Wir waren zu sechst: mein heutiger Kollege vom Stuttgarter Ballett, der Tscheche Tomas Danhel, drei Spanier, ein Deutscher und ich, der einzige Russe. Aus diesem Grund hatte ich einen besonderen Kontakt zu dem Meister, weil ich allen meinen Klassenkameraden seine Korrekturen übersetzen musste, Pestov hat nur Russisch gesprochen! Selbstverständlich waren wir alle begeistert und haben mit großem Respekt die Ankündigung vernommen, dass wir von dem berühmten Professor unterrichtet werden, aus dessen „Werkstatt“ so viele Generationen von Solisten, Choreografen, Pädagogen gekommen sind, die einen Ruf auf den internationalen Bühnen haben. Wie zum Beispiel Vladimir Malakhov, der heutige Intendant des Staatsballetts Berlin, Alexei Ratmansky, der frühere Direktor des Bolschoi-Balletts und jetzige Resident Choreographer des ABT, Yuri Possokhov vom San Francisco Ballet, der erste Solist des Bolschoi-Balletts Nikolai Tsiskaridze, der erste Solist des Stuttgarter Balletts Alexander Zaitsev und viele andere.

Und wie war er im Alltag so? Er war klein von Wuchs, er stotterte viel (was mir gewisse Schwierigkeiten bei der Übersetzung bereitete), Pjotr Antonowitsch war überhaupt kein öffentlicher Mensch. Manchmal war er ungerecht streng, manchmal entwaffnend warm und freundlich. Er hatte eine scharfe Zunge und sein eigenartiger Humor hat uns viel geholfen, um die gewaltige und kompromisslose Lehrzeit zu überstehen – z.B. unsere Abschlussprüfung an der Stange. Sie besteht normalerweise aus 8-9 Übungen, die mit Pausen getrennt werden, bei uns war sie von Plié bis Grand Battement eine ununterbrochene Gesamtkomposition, die 13-15 min. dauerte! Und danach kamen die Übungen in der Mitte, Sprünge/Allegro und Variationen. Eine enorme physische Leistung für Tänzer, die aber viel Ausdauer gebracht hat! Oft hat er uns zu sich nach Hause eingeladen, kochte für uns, zeigte verschiedene Videoaufnahmen von Ballett und Oper, hat über das Leben unterrichtet. Manchmal konnte er eine Beziehung ohne jegliche Erklärung abbrechen.

Wie sollte man seine Methodik beschreiben? Es ist eine präzise Art des Verhaltens auf der Bühne, ohne Druck und Affektiertheit. Eine eiserne Disziplin und Perfektion waren seine Hauptanliegen. Die technische Trickserei mochte er nicht, bei augenfälliger Virtuosität wurde er immer misstrauisch. Dafür haben aber seine Studenten eine ungewöhnliche Kraft erarbeitet, weil er oft die alten Exercises wiederholte. Und er verlangte immer, diese Kraft mit Eleganz zu überdecken. Er hat uns gelehrt, tief in die Musik zu hören, sie zu spüren, ihren Rhythmus aufzunehmen, die Pausen zu halten.
Sein Glanzstück war ein Teil der kleinen Sprüngen, Allegro mit Batteries - kleine Schläge der Beine in der Luft. Er hat immer eine „Katzen“-lautlose Landung nach dem Sprung verlangt. Und vor allem hat er uns veranlasst, uns „breit“ zu bewegen, unermüdlich die ganze Bühne zu füllen. Die Reinheit, die Klarheit – das war sehr wichtig für ihn. Die Reinheit der Schule, des Trainings, des Tanzes. Und die Reinheit und Ehrlichkeit unserer Berufsauffassung. Pjotr Antonowitsch hat nicht nur unseren Beruf glänzend unterrichtet, sondern er hat auch die Persönlichkeit der Tänzer entwickelt. Möge seine Seele im Frieden ruhen und seine Lehre in uns leben.

Antonio Di Carmine studierte von 1996 bis 2003 bei Petr Pestov. Er tanzt heute beim Ballett Hof und betreut die Foren bei tanznetz.de.

In Erinnerung an Pjotr Antonowitsch Pestov Am 31.07.2011 verstarb eine Ballettlegende, Pjotr Antonowitsch Pestov, einer der berühmtesten Ballettpädagogen für Männer weltweit. Ein großer Verlust für die Ballettwelt. Ich hatte das Privileg und Glück, sieben Jahre lang sein Schüler zu sein, seinen Unterricht zu genießen und die Ballettakademie bei ihm abzuschließen. Ich erinnere mich noch sehr gut an den ersten Ballettunterricht bei ihm im September 1996. Die ganze Klasse war sehr aufgeregt, weil wir den Lehrer von Vladimir Malakhov und vielen anderen weltberühmten Ballettstars bekamen. Anfangs war es nicht ganz einfach, eine große Umstellung, denn Herr Pestov unterrichtete nur in russischer Sprache. Ab und zu fiel ein englisches Wort dazwischen. Der Korrepetitor oder die russischsprachigen Schüler übersetzten anfangs. Doch schon nach einigen Monaten verstanden und sprachen die meisten von uns genug Russisch, um dem Unterricht alleine zu folgen, die Korrekturen zu verstehen und sich mit Herrn Pestov zu verständigen.

Was Herrn Pestov von anderen Lehrern unterschied und ausmachte, war seine Besessenheit auf Musikalität, Bewegungssprache und seine äußerst sorgfältige Aufmerksamkeit auf Details. Jeder Schritt, jedes Tendu oder jeder Port de bras im richtigen Zusammenhang mit der Musik hat seine Bedeutung und trägt dazu bei, dem Zuschauer eine Geschichte zu erzählen.
Im Unterricht herrschte strenge Disziplin. Es wurde sehr hart gearbeitet und Übungen und Schrittfolgen wurden so oft wiederholt, bis jeder Einzelne sie fehlerfrei ausführte und technisch so gut wie Herr Pestov es wollte. Er war selten zufrieden, es war jeden Tag eine neue Herausforderung, an sich zu arbeiten. Zudem erzählte er uns viel über Ballettgeschichte, Musik, Kunst und erwartete, dass wir unser erlerntes Wissen auf der Bühne umsetzten.

Außerhalb des Ballettsaals war Herr Pestov wie ein (Groß)Vater zu uns. Lieb und herzlich. Er kochte uns russische Mahlzeiten, zeigte uns Filme, die seiner Meinung nach zur Allgemeinbildung gehörten oder die man gesehen haben sollte, trank mit uns Kaffee, aß mit uns in der Schulmensa, brachte uns Gebäck vom Bäcker und verteilte nach dem Training russische Bonbons. Er sorgte sich um das Wohl jedes einzelnen Schülers.

Wenn ich an die Schuljahre bei ihm zurückdenke, bin ich sehr glücklich, durch seine alte russische Schule gegangen zu sein. Es war sehr hart, aber ich habe so unglaublich viel gelernt von ihm, nicht nur für meine Tänzerlaufbahn, sondern auch für das Leben.
Die große Anzahl seiner Absolventen, die in der ganzen Welt verteilt sind, wird hoffentlich dafür sorgen, dass sein Erbe weitergegeben wird, damit noch viele Tänzergenerationen davon profitieren können. Es reichen keine Worte aus, um die Anerkennung auszudrücken, die er verdient. Die einzige Möglichkeit ihm zu huldigen ist, das weiterzuführen, was er uns gelehrt hat.
Ich werde ihn immer in guter Erinnerung behalten und ihm ewig dankbar sein für all das, was er für mich getan hat und mir beigebracht hat. Ich wäre heute nicht der Tänzer, der ich bin, und hätte nicht all das erreicht im Theater ohne seinen Unterricht.
Danke für alles, Herr Pestov. Ruhe in Frieden.

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