Die Suche nach der eigenen Sicht

Im Heimathafen lässt Clébio Oliveira in der „Milchstraße“ tanzen

Berlin, 06/06/2011

Die Welt der Blinden habe ihn zu seinem Stück angeregt, sagt Clébio Oliveira. Manche sehen auf grauem Grund zumindest helle Punkte wie einen Sternenhimmel. Der brasilianische Tänzer und Choreograf mit Wohnsitz in seiner Wunschheimat Berlin deutet das poetisch als „Milchstraße“ und nennt sein Duett auch so. Szenegängern ist er als quirliger Ex-Tänzer der Kompanie Toula Limnaios längst kein Unbekannter mehr. Doch nur wenige wussten, dass der studierte Tanzpädagoge in Brasilien Preise als Tänzer und Choreograf gewann, mit einem gelobten Beitrag fürs Ballett Kiel auch in Deutschland bereits Spuren hinterlassen hat. Zu den brasilianischen Kompanien, für die er kreiert hat, gesellt sich Hubbard Street Dance aus Chicago: Als Wettbewerbssieger erarbeitet er für die weltweit tourende Truppe ein neues Stück. Zuvor stellte er im Berliner Heimathafen sein Sinnen über das filigrane Sehen von Blinden vor. Wer diesen Hintergrund nicht kennt, kommt dennoch auf seine Kosten. Denn auch die Sehenden sind Suchende nach der eigenen Sicht.

Die Notbeleuchtung lässt matt erkennen, was man hört. Ein Mann stakelt, die Füße in Eimerchen für Sandkastenspiele, durch den weißen Raum, hält mühsam Balance. Nur das Klicken seines Gangs, der Prall an die Wand wie an rettendes Ufer verraten seinen Standort. So regsam er ist, so reglos sitzt auf zu kleinem Sessel eine Frau, klappert mit Geschirr auf dem Schoß. Geräusch wie durchs offene Fenster, Marktgeschrei, Gewitter, Hundbellen, Streichquartett, Fußballreport, formt sich zur Collage. Er hockt sich, die Eimerchen neben sich, an eine Wand, stellt in seiner Wohnecke Tischlampe und Minimonitor mit Flimmerbild an. Langsam durchfährt die Frau längs der Wand den Raum, derweil er nach Anklopfen in fremder Welt ein impulsives Solo tanzt, das ihn wieder von Wand zu Wand schlägt. Die Frau hat ein kleines Rasenstück als enges Reich erobert. Wieder erklopft er sich Eintritt, da endlich ergeben sich nach langem Einstieg Kontakte zweier Einzelwesen. Wie er sie auf dem Rasen umherfährt, dreht, schleudert, puppenhaft aufstellt, sie dann mühsam und liebevoll auf dem Rücken trägt, abkippen lässt, ist gut erfunden. Als er sich auf dem Boden abstützt, bilden beide eine schaukelnde, zuckende Skulptur.

„Tanze Samba mit mir“, ertönt ein Schlager, wird zum Ansatz des stärksten Teils dieses 70-minütigen Abends. Was Oliveira da an gehobenen, geschleuderten Transporten der Partnerin eingefallen ist, sich rasant und mit organischem Körperempfinden steigert, kann sich sehen lassen. Dann separieren sich die beiden wieder, er fährt mit dem Kindersessel des Beginns umher, sie schnallt sich einem liegenden Stuhl an, erkundet in Schräglage ihr Reich, trinkt, isst. Zu spielerischem Miteinander kommt es, als er sie zum Gaudi auf dem rollbaren Stuhl um die eigene Achse wirbelt. Am Ende liegt sie auf dem Rücken, er rollt Glaskugeln aus einem Eimerchen auf sie zu. Tröpfelndes Klavier in Arvo Pärts Komposition schafft die Stimmung einer kosmischen Vision. Als er sich in eine Nische hockt, stößt die Reglose unerwartet die Glasperlen wie Sterne fort, ehe das Licht über den beiden Universen erlischt. Zwei Menschen, blind oder nicht, sind einander begegnet, haben Gemeinsames erlebt. Das berührt, so wie Oliveira, der noch nicht frei von der Handschrift der Toula Limnaios, sein Talent unter Beweis gestellt und in der Argentinierin Mercedes Appugliese eine ebenbürtige Partnerin gefunden hat.

Nochmals 11., 12.6., Heimathafen, Karl-Marx-Str. 141, Berlin-Neukölln

www.heimathafen-neukoelln.de

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