Diaghilew: Halbzeit der Festivitäten rund um den Erdball

Wie die Welt den hundertsten Geburtstag der Ballets Russes feiert

oe
Stuttgart, 17/06/2009

Hundert Jahre nach dem Pariser Debüt der Ballets Russes von Diaghilew, achtzig Jahre nach dem Tod des russischen Impresarios, sind die Begriffe Diaghilew und Ballett fast zu einem Synonym verschmolzen. Diaghilew und das Ballett, tönt es aus aller (Ballett-)Munde rund um den Erdball! Spezielle Diaghilew-Programme bei den großen internationalen Kompanien, ganze Diaghilew-Stagioni bei einzelnen Truppen, Diaghilew-Ausstellungen, wo immer die Möglichkeit besteht, ein paar Diaghilew-Originale der Öffentlichkeit zu präsentieren, Diaghilew-Artikel in den Fachzeitschriften (eher bescheiden in den Zeitungen, ganz und gar dürftig in der deutschen Presse). Sogar Deutschland ist an dem Diaghilew-Boom beteiligt, feiert ihn mit Neueinstudierungen seiner Ballette und mit Kreationen, von denen man sich vorstellen kann, dass er, immer für Neues aufgeschlossen, ihnen seinen Segen erteilt hätte. Keine Frage, dass er sich auch für die neuen elektronischen Medien engagiert hätte.

Deutsche Schwerpunkte sind München und Hamburg. Berlin allerdings meldet Fehlanzeige, was verwunderlich ist angesichts der Tatsache, dass Berlin 1910 erster Gastspielort der Ballets Russes nach der Pariser Premiere von 1909 war, mit der historisch eminent wichtigen Uraufführung von Fokines „Carneval“ nach Schumann (der erste nicht-russische Komponist in ihrem Programm). Und doch, so verwunderlich nicht, bedenkt man, dass es Berlin bis auf den heutigen Tag versäumt hat, seine historische Bedeutung für die Entwicklung des Balletts so aufzuarbeiten, wie es beispielsweise in England Cyril W. Beaumont und Ivor Guest geleistet haben – oder in Österreich Andrea Amort (in der Tat stammen die wichtigsten jüngeren Forschungen zur Berliner Ballettgeschichte von der Wiener Balletthistorikerin Gunhild Oberzaucher-Schüller – bereits in dem Band „Spiegelungen“ von 1997 unter dem Titel „Sergei Diaghilew im Kaiserlichen Berlin“).

Merkwürdig übrigens: da haben wir in Berlin zwei promovierte Tanzwissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen beim Staatsballett und an der Freien Universität, aber keine scheint sich für die Ballettgeschichte ihrer Stadt zu interessieren. München, inzwischen dank dem Bayerischen Staatsballett Deutschlands Ballettklassikerkompanie Nummer eins, machte zu Beginn der laufenden Saison den Anfang mit einer Neueinstudierung von Fokines „Scheherazade“ und Nijinskas „Les Biches“ – sowie, in bester Diaghilew-Tradition mit der Uraufführung von Terence Kohlers „Once Upon an Ever After“ (deren mannigfache Zitate aus dem klassischen Repertoire einen hübschen ironischen Akzent setzten).

Und München schloss seine Diaghilew-Saison mit der Neueinstudierung von Nijinskys „L‘Après-midi d‘un Faune“ und – höchst ambitioniert – mit der Uraufführung der abendfüllenden „Zugvögel“ von Jiří Kylián, einer choreografischen Multi-Media-Produktion, die die Diaghilew-Perspektive seines 1917 im römischen Teatro Costanzi uraufgeführten „Feu d‘artifice“ als ‚Poème symphonique‘ zur Musik vor Strawinsky, annonciert als „Il s‘agit d‘un spectacle ‚ son et lumière‘ avant la lettre, sans autre propos que d‘illustrer le titre de l‘oeuvre‚ Feu d´artifice‘“ – den Grenzübertritt der Gattung auf das Terrain des elektronischen Mediums markierend – ins 21. Jahrhundert fortschrieb.

Nicht genug damit, lud München zu einer der umfassendsten Diaghilew-Ausstellungen der jüngeren Vergangenheit ins Deutsche Theatermuseum, die unter dem Titel „Schwäne und Feuervögel – Die Ballets Russes 1909-1929 – Russische Bildwelten in Bewegung“ von Claudia Jeschke und Nicole Haitzinger kuratiert wurde, mit einem opulenten Katalog des Berliner Henschel-Verlags (175 Seiten, zahlreiche farbige und schwarz-weiße Fotos, 26,90 €). Sie wandert im Anschluss an München vom 25.6. bis zum 27.9.2009 ins Österreichische Theatermuseum Wien. Die auf zwei Stockwerken des Museums arrangierte Ausstellung präsentiert in überwältigender Fülle Objekte aus den einzelnen Produktionen, Skizzen, dokumentarisches Material, Kostümentwürfe und Kostüme, Tanz-Notationen, filmische Exzerpte und jede Menge musikalische Beispiele. Großer Wert wird dabei (auch in den Katalogtexten) auf die Herausarbeitung der spezifischen russischen Bezüge gelegt, im zweiten Teil sodann auch auf den Beitrag der Ballets Russes zum Entstehen der großen internationalen unabhängigen Ballettkompanien und ihrer Produktionsbedingungen im Abseits der zuvor den Opernhäusern fest attachierten Truppen.

Die Qualität der Textbeiträge ist dabei unterschiedlich ausgefallen. Sehr aufschlussreich sind die Schilderungen von Ann Hutchinson und Claudia Jeschke über Nijinsky und Cecchetti und ihre Beschreibungen der nicht realisierten Ballette „Liturgie“ und „Die Maske des roten Todes“ sowie die umfangreiche Untersuchung von Oberzaucher-Schüller über die Rezeption der Ballets Russes namentlich in Deutschland. Vergegenwärtigt man sich, dass die historische Aufarbeitung der Existenz der Ballets Russes erst mit der großen Ausstellung von Richard Buckle „In Search of Diaghilev“ in Edinburgh und London 1954 einsetzte, ist man verblüfft über die Fülle an Details, die aus ihrer ja nur zwanzigjährigen Geschichte ans Tageslicht gekommen und in zahllosen Buchpublikationen dokumentiert worden sind. Reiht sich die Münchner Ausstellung als – durchaus gelungener – Versuch einer Gesamtdarstellung des zwanzigjährigen Wirkens Diaghilews und seiner Kompanie ein in die Fülle gleicher Veranstaltungen, die rund um den Erdball stattfinden, so stellt Hamburg einen absoluten Sonderfall dar.

Hier steht eins der Hauptereignisse unmittelbar bevor: die Premiere des „Hommage aux Ballets Russes“-Programms mit Balanchines „Verlorenem Sohn“, der Rekonstruktion von Nijinskys „Sacre du printemps“ in der Uraufführungsversion von 1913 sowie John Neumeiers Neuninterpretation von Fokines „Pavillon d‘Armide“, das am Anfang des Pariser Eröffnungsprogramms von 1909 stand. Es sieht John Neumeier auf dem Höhepunkt seines nunmehr über dreißigjährigen Wirkens in der Hansestadt als Chef und inzwischen Intendant des Hamburg Balletts, als das er konsequent über die Jahrzehnte ein Ballett-Imperium aufgebaut hat, wie es das in der Ballettgeschichte bisher noch nicht gegeben hat. Und das damit an die großen Ballett-Ären anknüpft, wie sie Bournonville in Kopenhagen, Petipa in St. Petersburg und Balanchine in New York hinterlassen haben. Wenn wir heute auf diese Vorgänger zurückblicken, sehen wir, dass sie mit dem Aufbau ihrer Kompanie, dem Ausbau des Repertoires und der Etablierung einer eng mit der Kompanie verbundenen Schule befasst waren.

So begann auch Neumeier 1973 in Hamburg, dessen Kompanie und angegliederte Schule heute zu den renommiertesten internationalen Instituten gehören. Indessen erweiterte Neumeier mit seinen Interessen den Wirkungskreis des Hamburg Balletts weit über dessen theatralische Kompetenz aus. Das begann harmlos genug mit seiner früh ausgeprägten privaten Sammelleidenschaft für alle möglichen Ballett-Antiquaria, die sich schon bald auf Objekte verdichtete, die den Tänzer und Choreografen Nijinsky betreffen. Dazu errichtete er 2006 die Stiftung John Neumeier, die seine Sammlungen zu den Themen Tanz und Ballett sowie sein Lebenswerk zusammenfasst und als dritte Säule neben der Kompanie und dem Ausbildungsballettzentrum fungiert. Dazu gehört eine Bibliothek und ein Archiv, zu deren wissenschaftlicher Aufarbeitung ein Gesamtkatalog erstellt wird mit geschätzten 11.500 Titeln, zu denen auch die 87 Zeichnungen Nijinskys gehören, die zusammen mit den sonstigen Objekten (Druckwerke, Ölgemälde, Graphiken, Skulpturen und Fotomaterialien) weltweit die größte Sammlung von Nijinskyana darstellen. Mit einer Vernetzung mit der Universität, einem im Aufbau begriffenen Museum und diversen soziokulturellen Aktivitäten bietet Hamburg bereits heute eine infrastrukturelle Einbindung des Balletts in die gesellschaftspolitische Struktur der Stadt, die einmalig in der ganzen Welt ist, und von der Bournonville, Petipa und auch noch Balanchine nie zu träumen gewagt hätten.

Es ist die Konzentration auf Nijinsky, durch die sich Hamburg von allen Diaghilew-Ausstellungen dieses Jubiläumsjahres unterscheidet. Sie ist das gemeinsame Produkt von John Neumeier und Hubertus Gaßner, Direktor der Hamburger Kunsthalle, in deren Räumen sie stattfindet – mit etwa 300 Werken, darunter an die 100 eigenhändige Arbeiten Nijinskys. Ihr Titel: „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“ (noch bis zum 16. August – dazu ist ein luxuriös ausgestatteter Katalog erschienen, herausgegeben von Hubertus Gaßner und Daniel Koep, 362 Seiten, alle Textbeiträge in deutscher und englischer Sprache, 32 €). Das ganz und gar Neue und Bahnbrechende dieser Ausstellung ist, dass sie das zeichnerische Werk Nijinskys – bisher betrachtet als Marotte seiner zunehmenden Schizophrenie nach der Beendigung seiner Karriere als Tänzer und Choreograf „im historischen Kontext, d. h. mit Werken renommierter Künstlerinnen und Künstler seiner Zeit zeigt“ – und zwar so prominenter Malerinnen und Maler wie Vladimir Baranov-Rossiné, Sonia Delaunay-Terk, Alexandra Exter und Léopold Survage, zu denen sich der seit 1896 in Paris lebende Frantisek Kupka gesellt, der mit Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian die abstrakte Kunst begründet hat. Durch die Ausstellung, die im Katalog von fundierten kunsthistorischen Texten begleitet wird, und die Nijinsky gleichsam eine zweite Existenz als bildender Künstler auf höchstem Niveau bestätigen, wird „Der Tanz in dem historischen Augenblick zur Motivations- und Inspirationsquelle abstrakter Malerei, als er sich selbst von dem Prinzip des Handlungsballetts löst, die von der Romantik bis zum Endes des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus den Bühnentanz bestimmt haben.“

Diese Erkenntnis hätte allein schon genügt, 2009 als Jubiläumsjahr zu feiern. Sie kommt nicht zuletzt auch der Reputation Neumeiers zugute, der für sich in Anspruch nehmen darf, als künstlerischer Nachlassvollstrecker Diaghilews zu gelten – auch wenn er sich von Diaghilew grundsätzlich darin unterscheidet, dass er nicht über dessen Flair als Entdecker und Auftragsgeber der Elite der zeitgenössischen Komponisten verfügt, wie es Diaghilew mit seinem untrüglichen Spürsinn für Komponisten vom Range Strawinskys, Ravels, Debussys, Richard Strauss‘, Prokofjews, de Fallas, Saties und Poulencs (und bildenden Künstler im Gefolge von Picasso) auszeichnete. Andererseits hat sich Diaghilew nie als Choreograf betätigt, während sich Neumeier als einer der kreativsten Autoren des Aktionsballetts in einer der gefährdetsten Epochen des Ballett-Theaters bewährt hat. Es dürfte schwerfallen, einen anderen heutigen Ballettchoreografen von seinem künstlerischen Anspruch und Niveau zu nominieren (bekräftigt nicht zuletzt durch seinen im Vorjahr erschienenen voluminösen Band „In Bewegung“ als Dokument seiner ersten dreißig Jahre in Hamburg – ein absolutes Unikum der Ballettbibliografie durch die Jahrhunderte von der Entstehung der Gattung an).

Bei den Vorbereitungen für die Hamburger Diaghilew-Festivitäten hatte ein Glückwunschschreiben von Neumeiers Hamburger Kirchensprengel St. Elisabeth zu seinem siebzigsten Geburtstag am 24. Februar 2009 für einige Irritation gesorgt. Wie denn das? Hatte er nicht jüngst erst seinen siebenundsechzigsten Geburtstag auf der Japantournee seiner Hamburger Kompanie gefeiert? War er plötzlich sozusagen über Nacht um drei Jahre gealtert? War aus dem John Neumeier ein John Altmeier geworden? Der offizielle Kommentar aus der Direktionsetage des Hamburg Balletts klang merkwürdig halbherzig. Inzwischen haben wir die Bestätigung seines bisher gültigen Geburtsjahres 1942 aus seinem eigenen Munde gegenüber der Chefredakteurin des amerikanischen DANCE MAGAZINE: „He said his birth date is 1942.“ Also genau wie es in den diversen Lexika und der allwissenden „Wikipedia“ registriert ist. Und noch eine hübsche Schlusspointe, damit wir aus lauter Ballettbegeisterung nicht übermütig werden: auf unseren Vorwurf, dass so wenig Ballettkritiken im Rezensionsteil der Schallplatten-Fachzeitschrift FONO FORUM erscheinen, erwiderte deren Chefredakteur: „Das liegt einzig daran, dass wir seit einigen Ausgaben die Ballett-Rubrik in FONO FORUM mangels Interesse ganz gestrichen haben.“ Auch das ein Beitrag zum Diaghilew-Jubiläumsjahr, dessen Jubilar immerhin Auftraggeber für Strawinskys „Feuervogel“, „Petruschka“, „Sacre du printemps“, „Gesang der Nachtigall“, „Les Noces“ und „Pulcinella“ war.

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