Siebzig Jahre und drei Tage

Der Mythos lebt: Rudolf Nurejew zum Siebzigsten

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Stuttgart, 14/03/2008

Der 14. oder der 17., das ist hier die Frage! Julie Kavanagh, Verfasserin von „Nureyev – The Life“, laut Klappentext „The Definitive Biography of one of the most iconic dancers of the twentieth century” (bei Pantheon, London 2007) plädiert für den 17. März als Geburtsdatum – und das ist auch in seinem Reisepass eingetragen. Gerhard Brunner, langjähriger Freund Nurejews und als Ballettdirektor der Wiener Staatsoper über viele Jahre hinweg sein Geschäftspartner, ist sich da nicht so sicher. Bekanntlich wurde Nurejew im Zug geboren, auf der langen, langen Fahrt entlang dem Baikalsee. Brunner hat den Fahrplan der Transsibirischen Eisenbahn studiert und ist der Meinung, dass das Geburtsdatum erst am Ankunftsort des Zugs registriert wurde, dass er indessen schon drei Tage eher zur Welt kam. Nurejew selbst konnte sich naturgemäß nicht mehr daran erinnern. Seien wir großzügig, schenken ihm die drei Tage und feiern schon heute seinen Siebzigsten!

Es ist ein ungeheuerlicher Wälzer, dieses Leben des Nurejew: 782 Seiten, viele Fotos, über 70 Seiten Quellennachweise und Register. Ich bin noch längst nicht am Ende angelangt, habe aber alles, was ich gelesen habe, mit Heißhunger verschlungen. Kavanagh ist Engländerin und Autorin der vorzüglichen Biographie über Frederick Ashton. Sie hat über zehn Jahre lang an diesem Buch geschrieben, zahlreiche Reisen unternommen und ist von den beiden Nurejew Stiftungen in Europa und Amerika großzügigst gefördert worden. Nicht zu fassen, was sie an Recherchen in diesem Buch verpackt hat. Sie hat sie alle interviewt: Verwandte, Bekannte, Freunde und Nicht-Freunde, Pädagogen, Choreografen, Kommilitonen, Partnerinnen und Partner, Lover und – sehr gelegentliche – Loverinnen, Journalisten, Strichjungen und und und ... John Percival, der englische Kritiker, der Nurejew gut gekannt und unzählige seiner Vorstellungen gesehen hat, warnt uns, alles für bare Münze zu nehmen. Das hat meiner Begeisterung allerdings keinen Abbruch getan. Ich bin hingerissen von diesem Buch und könnte Seiten darüberschreiben. Will mich hier aber auf einen einzigen Aspekt beschränken: auf Nurejew und seine deutschen Freunde.

Der erste war Egon Bischof aus Ostberlin, mit dem zusammen er bei Puschkin in Leningrad studiert hat – das war im Frühling 1957. Der hat ausgesprochen positive Erinnerungen an „Rudnik“. Zu viert teilten sie sich ein Quartier – die beiden anderen waren der Finne Leo Ahonen und der Rumäne Grigore Vintila. Richtig spannend wird es dann im zwanzig Seiten langen Kapitel „Blood Brothers“, das hauptsächlich von Nurejews Freundschaft mit dem 1960 17 Jahre alten Teja Kremke handelt (sie haben sich wirklich wie in der „Götterdämmerung“ Blutsbrüderschaft geschworen), ebenfalls Gaststudent aus Ostberlin bei Puschkin.

Irritierend finde ich, dass immer nur von Teja Kremke die Rede ist. Der hieß nämlich Teja-Knut Kremke, jedenfalls laut „Friedrichs Ballettexikon von A-Z“, dort hat er eine eigene Eintragung. Er war dann Tänzer an der Berliner Staatsoper, hat die klassischen Choreografien in Grubers Einstudierungen betreut und war später Ballettchef in Schwerin. Über seine Todesursache kursieren die verschiedensten Gründe – nichts Genaues weiß man nicht (aber vielleicht weiß ja Dietmar Seyffert, der Vater von Gregor, mehr darüber). Jedenfalls scheint Kremke der erste männliche Sexpartner Nurejews gewesen zu sein, und die beiden verband eine langjährige Freundschaft – auch noch nach der Flucht Nurejews in den Westen (was Kremke in Ostberlin in erhebliche Schwierigkeiten brachte). Interessant ist diese Liaison nicht zuletzt, weil Kremke während ihrer gemeinsamen Studien bei Puschkin viele Amateurfilmaufnahmen im Studio, aber auch in Vorstellungen des Kirow-Balletts gemacht hat, von denen Ausschnitte offenbar in dem von Arte für den 17. März um 22.35 Uhr angekündigten Film „From Russia with Love“ zu sehen sein werden.

Übrigens war auch Ute Mitreuter zur gleichen Zeit Stipendiatin an der Waganowa-Schule und mit beiden häufig zusammen – sie kommt vor allem als Partnerin von Kremke vor, während Nurejew die beiden korrigiert. Nurejew wohnte damals bei den Puschkins, und da scheint es im Quartett von Puschkin, seiner Frau, Nurejew und Kremke ziemlich rund zugegangen zu sein. Später taucht dann auch noch Heinz Mannigel auf, der Nurejew beim Gastspiel der Leningrader in Ostberlin ausgiebig in der Stadt herumgeführt hat.

Es gibt dann noch ein paar weitere deutsche Episoden in Nurejews früher westlicher Karriere – zum Beispiel der kuriose Zwischenfall beim Hamburg Gastspiel des Grand Ballet du Marquis de Cuevas mit „Dornröschen“ im Operettenhaus an der Reeperbahn, als ein Bühnentechniker versehentlich die Sprinkleranlage einschaltete und das ganze Haus unter Wasser setzte, so dass die Abendvorstellung ausfallen musste. Damals konnte sich die „Stuttgarter Zeitung“ noch leisten, mich eigens zur Berichterstattung über Nurejew nach Hamburg zu schicken. Das waren noch Zeiten! Gut erinnern kann ich mich noch an Nurejews ersten Auftritt in Stuttgart. Der war zur Ballettwoche 1962 nach Stuttgart gekommen, um bei der Premiere seines Freundes Erik Bruhn in Crankos „Daphnis und Chloe“ (mit Georgina Parkinson) dabei zu sein (eine der ganz wenigen Rollenkreationen von Bruhn).

Sie wurde ein toller Erfolg, allein die ganze Öffentlichkeit und alle Journalisten stürzten sich auf Nurejew und ließen Bruhn links liegen. Der wurde fuchsteufelswild eifersüchtig, sagte angeblich krankheitshalber die zweite Vorstellung ab, und als Cranko ihn in seinem Hotel besuchen wollte, fand er einen leeren Raum vor. Bruhn war wutschnaubend abgereist und Nurejew sprang für ihn als Partner von Yvette Chauviré in Victor Gsovskys „Grand Pas classique“ ein – was übrigens die große Liebe der beiden Superstars, die trotz aller Seitensprünge Nurejews bis an Bruhns Lebensende währte, nicht beeinträchtigte.

Übrigens ist Brunner in Kavanaghs Buch zwar kurz und durchaus freundlich erwähnt, aber angesichts seiner engen Verbindung mit Nurejew und vor allem angesichts der Tatsache, dass es Brunner war, der Nurejew zur österreichischen Staatsbürgerschaft verholfen hat – und damit zu erheblich leichteren Reisemöglichkeiten – doch ziemlich kläglich bedient worden. Gern verweise ich hier auf Brunners Beitrag in dem Buch „Nurejew und Wien“ über „Wer sonst, wenn nicht ich? Rudolf Nurejew – Partner, Freund, Kollege“, den ich in diesem Zusammenhang mit großem Gewinn wieder gelesen habe. Es lohnt sich!

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