Die Heimkehr der Marguerite Gautier

John Neumeiers „Kameliendame“ erstmals in Paris

Paris, 16/07/2006

Achtundzwanzig Jahre ist es nun her, dass John Neumeier seine „Kameliendame“ in Stuttgart schuf, die in den Hauptrollen vier Startänzer der Kompanie vereinte: Marcia Haydée, Egon Madsen, Birgit Keil und Richard Cragun. Am Ende dieser Spielzeit steht das Ballett nun erstmals in der Stadt auf dem Spielplan, in der sich die traurige Geschichte der Marie Duplessis abspielte, die stadtberühmte Kurtisane und Geliebte des Schriftstellers Alexandre Dumas fils, die ihn zu seinem Roman „La Dame aux camélias“ inspirierte.

Wenn auch wenige Jahrzehnte nach Erscheinen des Romans erbaut, bildet der prunkvolle Palais Garnier einen passenden Rahmen für die Geschichte: er befindet sich genau zwischen dem Boulevard de la Madeleine, Domizil der Marie Duplessis, und der Rue d‘Antin, in die Dumas fils die Wohnung seiner Romanheldin verlegte, nur wenige Schritte von beiden entfernt. Dort entdeckte nun das Pariser Publikum in fünfzehn bis auf den letzten Platz ausverkauften Vorstellungen John Neumeiers Version des Mythos der Kameliendame.

Das Resultat ist überraschend und wer beispielsweise die Stuttgarter Kameliendame noch allzu genau im Kopf hat (wer erinnert sich nicht an die denkwürdige Interpretation von Sue Jin Kang und Robert Tewsley, die Neumeiers Choreographie in ihrem ganzen Sinn zu erfassen und darzustellen wussten?), glaubt manchmal, ein anderes Ballett zu sehen. Alles scheint schillernder, luxuriöser, aber auch oberflächlicher und manchmal etwas zu grell, die Tableaux der Ball- und Theaterszenen sind minutiös ausgearbeitet, das Corps de Ballet ist präsenter - jeder einzelne Theatergast oder Ballgänger scheint durch seine Technik, Eleganz und Bühnenpräsenz die anderen ausstechen zu wollen. Die leicht dekadente, gleichgültige und zum Schluss rücksichtslose Pariser Gesellschaft wird brillant porträtiert.

Doch sind die Gesellschaftsszenen nur Accessoires: Neumeier geht es in seinem Stück weder um die Anekdote noch um das Sittenporträt, sondern um eine Geschichte der absoluten Liebe, deren höchste Vollendung der Verzicht auf eben jene Liebe ist. Wie in vielen seiner Ballette legt er den Schwerpunkt auf die Psychologie seiner Protagonisten, die er - eine gelungene, vom Roman inspirierte Parallele - in den Figuren der Manon Lescaut und ihres Liebhabers Des Grieux spiegelt. Letztere, als Theaterfiguren in die Geschichte eingeführt, durchziehen in visionsartigen Szenen das Ballett: Marguerite sieht in der Kurtisane, die nach ihrer Verbannung in den Armen ihres treuen Liebhabers stirbt, ihr eigenes Schicksal voraus, doch bleibt sie bei ihrem Tod allein.

Armand ist im Pas de trois des ersten Aktes von Manon und Des Grieux gefangen und seine Bewegungen reflektieren die des unglücklichen Liebhabers. Marguerite und Armand spiegeln sich ebenfalls in den vulgäreren Figuren der Prudence Duvernoy und des Gaston Rieux, die die sorglose, frivole Gesellschaft darstellen und sich nicht wegen eines echten Gefühls ruinieren würden. Schließlich spiegelt sich Marguerite auch noch in der Figur der raffinierten und kühl-berechnenden Olympe, mit der Armand sie aus Enttäuschung betrügt. Die Reflektionen durchziehen das Ballett und sind oft, wie der Spiegel in Marguerites Zimmer und die Visionen der Manon, Zeichen des Verfalls und des Todes.

Die sowohl schauspielerisch als auch tänzerisch sehr anspruchsvollen Hauptrollen wurden an diesem Spielzeitende von vier verschiedenen Besetzungen verkörpert: in der Premiere Aurélie Dupont und Manuel Legris, souverän und mit vollendetem Pariser Raffinement, dann Eleonora Abbagnato und Benjamin Pech, zwei exzellente dramatische Schauspieler. Ein weiteres Paar bildeten die elegante und langgliedrige Agnès Letestu mit dem aus Hamburg geladenen, sehr impulsiven und in Neumeiers Stil vollkommen versierten Jiri Bubenicek. An vier Abenden tanzten außerdem Clairemarie Osta und Mathieu Ganio.

Trotz der markanten Unterschiede in Alter, Größe und Stil stellte sich die Besetzung von Clairemarie Osta und Mathieu Ganio als harmonischer heraus als erwartet und es gelang ihnen, selbst die größten Schwierigkeiten der Choreografie und vor allem die sehr gewagten Hebungen elegant und flüssig zu meistern. Clairemarie Osta ist eine diskrete Marguerite, die große Gesten scheut und sich von Anfang an über ihr Schicksal im Klaren scheint. Ihr Spiel ist natürlich und neigt selbst in den dramatischsten Szenen - der Begegnung mit Armands Vater und dem Pas de deux des dritten Aktes - niemals zur Übertreibung. Dennoch ist sie sichtlich berührt von Armands naiver Hingabe und lässt sich von ihm dazu hinreißen, ihr altes Leben aufzugeben und ihre Zukunft zu vergessen, bis die Zwänge der Gesellschaft sie einholen und vernichten.

Mathieu Ganio beweist als Armand nicht nur aufs Neue seine tänzerischen Qualitäten und die Eleganz seines Stils, sondern auch eine interessante schauspielerische Entwicklung seit seinem „Caligula“ zu Beginn der Spielzeit. Er gibt einen sehr jugendlichen, idealistischen und fragilen Armand, dessen extreme Schüchternheit sich schnell in absolute Hingabe verwandelt. Er ist auf den ersten Blick völlig von Marguerite fasziniert und kann sein Glück über die Erwiderung seiner Liebe kaum fassen. Ihr scheinbarer Verrat erfüllt ihn mehr mit Verzweiflung als mit Zorn, und auf dem Ball des dritten Aktes scheint er weniger wütend und verletzt als halb besinnungslos - so betrachtet er zunächst mit nervösem Lachen die Folgen seines Tuns, bis er wieder zu sich kommt und in völlig niedergeschlagene Verzweiflung verfällt.

John Neumeier ist mit diesem Ballett ein echtes Meisterwerk gelungen, das ein komplexes Werk ohne Worte vollkommen verständlich in ein beinahe zweieinhalbstündiges Tanzstück umsetzt, in dem nichts zuviel ist und fast jeder Schritt einen Gedanken oder ein Gefühl auszudrücken scheint. Selbst die Musik Chopins, die sich nur schwierig in eine reine Begleitfunktion drängen lässt, passt, weniger Hintergrund als Dialog mit dem Bühnengeschehen, in jedem Augenblick genau zur Situation. Die zahlreichen Corpsszenen sind ebenso sorgfältig konstruiert wie die emotional vielschichtigen Pas de deux. So war auch das Pariser Publikum angetan von diesem Werk, das manch ein Zuschauer trotz seiner beinahe dreißig Jahre für eine Uraufführung hielt, und in gewisser Hinsicht war es eine. Sicher ist: die Kameliendame hat in ihrer Heimatstadt einen Platz gefunden, an dem sie wahrscheinlich eine interessante Zukunft erwartet.

Besuchte Vorstellung: 06.07.06, Wiederaufnahme im Palais Garnier vom 18.09.-30.09.06

 

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