Vom Tanz, der doch kein Tanz sein darf

Das Buch zur Produktion „Letters from Tentland“ von Helena Waldmann

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Stuttgart, 20/09/2005

Eine neue Reihe im Bielefelder transcript Verlag. Sie nennt sich „Texte zum Tanz“ und wird herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein. Ihr erster Band Zero präsentiert „Letters from Tentland – Zelte im Blick – Helena Waldmanns Performance in Iran“, edited by Susanne Vincenz. Dabei handelt sich's wahrlich nicht um eine Null-Nummer, sondern um ein sehr ansprechendes handliches Büchlein, leseeinladend, 121 Seiten stark, mit zahlreichen suggestiven Farbfotos (und Dutzenden miniformatigen, briefmarkengrossen Schnappschüssen – eher fürs Daumenkino geeignet), deutsch-englisch, 14,80 Euro, ISBN 3-89942-405-0.

Es ist sozusagen eine Art Tagebuch, bestehend aus Gesprächen, Interviews, Statements und Reflexionen über die Arbeit an der Produktion „Letters from Tentland“ der Berliner Choreografin Helena Waldmann und ihrer Dramaturgin Susanne Vincenz mit sechs iranischen Performerinnen, die mit und in ihren Zelten auftreten, und die es in den letzten Monaten verschiedentlich ja auch bei uns zu sehen gab (siehe kj vom 19.6.) – und die überall auf größtes Interesse stieß, weil sie Einblicke in eine uns doch sehr fremde Kultur gewährte, überraschend vielgestaltig, in mancher Hinsicht geradezu verstörend, aber eben auch sehr erhellend – reflektiert in zahlreichen individuellen Beiträgen iranischer Menschen der verschiedensten Schichten und Klassen – nur die Politiker sind ausgesperrt, treten allenfalls als anonyme Funktionäre und Zensoren in Erscheinung.

Vermittelt wird so ein Spektrum heutigen Lebens im Iran, ungeheuer komplex und widersprüchlich – weit über den Aspekt dieser höchst ungewöhnlichen Produktion mit den sechs in ihren Zelten eingesperrten Performerinnen hinaus – und über das Umfeld dieser auf so einzigartige Weise Identität stiftenden nationalen Zeltkultur, die ja nicht nur ein Überbleibsel zurückgebliebener Nomaden und unterprivilegierter Armer ist, sondern bis in die höchsten Kreise reicht (auch eine Filmregisseurin, eine Fotoreporterin und eine Rennfahrerin der Formel-1-Klasse sind darunter). Es ist eine ausgesprochen heterogene Gesellschaft und deren intensivst gelebte Privatexistenz, die auf der offenbar allen politischen Zensureingriffen und Filterungsmechanismen erfolgreich Widerstand leistenden Internet-Kommunikation beruht. Ja, ich habe den Eindruck, dass sich das Internet wie ein riesiges Zelt über den gesamten Iran wölbt.

Tanz ist absolut tabu im heutigen Iran – strikt verboten, so dass einen schon das bloße Wort in größte Schwierigkeiten bringen kann (eine virtuelle Existenz?). „Rhythmische Bewegung“ allein ist zugelassen, aber auch die ist rigoros eingeschränkt und von ausgesprochener Körperfeindlichkeit – Männer und Frauen sind ohnehin streng voneinander getrennt (zumindest in der Öffentlichkeit). Umso mehr wundert mich, dass in keinem einzigen der Beiträge von der allerdings nur kurzen Blüte des iranischen Tanzes in den Jahren unmittelbar vor der Revolution von 1979 die Rede ist, als der Schah Ninette de Valois ins Land rief (was ja auch die Türken taten) und sie mit der Etablierung und dem Aufbau einer nationalen Ballettkultur beauftragte – die dann unter Persönlichkeiten wie Robert de Warren (zuvor von 1960 bis 1962 Erster Solist beim Stuttgarter Ballett) und Ali Pourfarrokh rasch reüssierte und zur Gründung einer weiteren Folklore-Kompanie, der Mahali Dancers of Iran (ebenfalls unter der Leitung von de Warren) führte.

Das waren doch immerhin 25 Jahre äußerst lebhafter tänzerischer Aktivitäten. Sollte das alles heute vergessen (oder zwangsverschwiegen) sein? Gerne wüsste ich, was de Warren und Pourfarrokh zu der heutigen rigorosen Diskriminierung allen Tanzes im Iran zu sagen hätten! Gleichwohl ist dieses Büchlein über einen Tanz, der doch kein Tanz sein darf, überaus beeindruckend und ungeheuer respektheischend angesichts der Bescheidenheit der Leute, die hier zu Worte kommen. Und die alle, auch die Ärmsten der Armen, die Geschundenen und Verachteten, bekennen, dass sie – auf ihre Weise – glücklich sind. Aber was ist schon Glück? Auch hier klafft eben ein, wie es scheint, unüberbrückbarer Abgrund zwischen der Welt, in der sie und in der wir leben.

 

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