Anne Teresa de Keersmaeker mit „Rain“

Spätabendlicher Schock, ausgelöst durch Robert Tewsleys Abschied vom Royal Ballet

oe
Ludwigsburg, 03/11/2002

Nicht immer war ich sonderlich begeistert von Anne Tersa de Keersmaekers und ihren Rosas – so fand ich ihr „Drumming“ beim letzten Gastspiel in Köln eher ermüdend. Nicht so jetzt ihr „Rain“ aus dem Vorjahr zu Steve Reichs „Music for 18 Musicians“, wenngleich ich ihre Programmhefterklärung des Titels für ziemlich prätentiös und nicht nachvollziehbar halte (wenn schon Regen, so suggerierte der Rundhorizont aus Schnüren für mich am ehesten den Salzburger Schnürlregen, während ich die pulsierenden Wellenströme von Reichs Musik eher mit einer Inkantation des brasilianischen Regenwaldes in Verbindung gebracht hätte).

Wie dem auch sei: was Keersmaekers brillante Tänzer da 75 Minuten lang auf der Bühne des Ludwigsburger Forum-Theaters praktizierten, schien mir eine einzige Lektion des Slogans „Tanzen macht frei“ zu sein. Besonders faszinierend fand ich, wie Keersmaeker hier nicht so sehr zu der Musik oder gar nach der Musik tanzen lässt, geschweige denn ihr einen anekdotischen Inhalt überstülpt oder auch nur ihren exorzistischen Stimmungsgehalt zu interpretieren versucht, sondern wie sie die Musik gleichsam als eine Oberfläche benutzt, auf der sie ihre Tänzer surfen lässt, mal eng ihren Wellen angeschmiegt, dann wieder delphinartig die Luft durchmessend oder in ihre Täler abtauchend. Sie demonstriert dabei eine stupende Fantasie im Ersinnen immer neuer Körperhaltungen und Bewegungskombinationen und kommt dabei doch immer wieder auf ihre Grundmuster (Kreise, Diagonalen und frontale Blockformationen) zurück, überrascht immer wieder mit ihren blitzartigen Überfällen, die sie dann total erstarren lässt.

Doch am meisten verblüffte mich, wie sie mit ihren polyphonen Tänzerführungen den Eindruck einer vollkommen chaotischen Freiheit vermittelt, während dahinter doch eine ganz starke choreografische Struktur steht: Rushhour am New Yorker Times Square, geregelt von einer geheimen Verkehrspolizistin namens Anne Teresa de Keersmaeker aus Brüssel! Und das Ganze von einer verspielten Leichtigkeit, Eleganz und Heiterkeit, mit einer Vielzahl ausgesprochen lustiger Pointen – dargeboten von einer besonderen Spezies fliegender Fische. Hinreißend! Hinterher kommt man sich vor, als wenn man auf Luftkissen schreitet. 75 Minuten vollkommener Glückserfüllung!

Umso grösser der Schock, als, kaum wieder zu Hause, das Telefon klingelt und meine Tanzinformantin Nummer eins mir mitteilt, dass Robert Tewsley erklärt hat, nach der gegenwärtigen Serie von „Mayerling“-Vorstellungen beim Royal Ballet in London seinen gerade erst vor ein paar Monaten angetretenen Job als Principal Dancer der Kompanie am 14. November wieder zu verlassen, um künftig freischaffend zu arbeiten. Dahinter steht offensichtlich die Enttäuschung, dass er nicht das Rollenspektrum zu tanzen bekommt, dass er sich von seinem Engagement bei den Königlichen Londonern erhofft hatte.

Vielleicht hatte er sich ja auch zu viel zu schnell erhofft, verwöhnt sicher nicht zuletzt durch sein choreografisch so herausfordernd vielseitiges Rollenrepertoire in Stuttgart – vielleicht aber auch durch das Faktum, dass er in London nur einer unter mehreren Stars ist. Mutmaßen kann man auch, dass Ross Stretton, der ihn bekanntlich nach London engagiert hat, ihm Rollenversprechungen gemacht hat, um die er sich nun, nach dem Rücktritt von Stretton als Leiter der Kompanie betrogen sieht.

Dass die englische Renommierkompanie nicht unbedingt das Tänzerparadies ist, als das sie manchem Ballettfan hierzulande erscheinen mag, wird einem bewusst, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass dort ja eine ganze Reihe von prominenten und auch populären Tänzern auf nicht eben reibungslose Weise ausgeschieden sind – man denke nur an Irek Mukhamedov, Adam Cooper und Tetsuya Kumakawa.

In diesem Zusammenhang erinnern wir uns auch des kürzlichen Interviews von und mit Lucia Lacarra und Cyril Pierre, beide als Stars in San Francisco gefeiert, die ihre Engagements bei Helgi Tomassons dortiger Kompanie aufgegeben haben, um sich beim Bayerischen Staatsballett als Erste Solisten ein breiteres Rollenrepertoire zu erarbeiten (Lacarra: „Die große Verschiedenheit der Stile und all die dramatischen Ballette von Neumeier und Cranko – so etwas ist wirklich schwer ein zweites Mal zu finden“). Da wird uns bewusst, wie erstrebenswert es inzwischen auch für Tänzer von internationalem Renommee ist, in den großen deutschen Opernballetten zu tanzen. Was nicht zuletzt ein Beweis für deren hierzulande von missmutigen Kollegen noch oft unterschätzte internationale Approbation ist.

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