Bilanz der Spielzeit 2001/02

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Stuttgart, 29/07/2002

Mit der Dampfhammerwalze der Stuttgarter „Edward II.“-Vorstellungsserie ist die Ballettspielzeit 2001/02 zu Ende gegangen (und hat mit dem Paar Bridget Breiner und Douglas Lee noch die Ankunft zweier neuer Starpersönlichkeiten erlebt). Insgesamt war es wohl eher eine mittelprächtige Saison – mit ein paar deprimierenden Flops, etlichen Irritationen, aber auch erfreulichen Überraschungen, kontinuierlichen Entwicklungen und zwei auf höchster internationaler Ebene konkurrenzfähigen Kreationen.

Um mit den beiden größten Enttäuschungen zu beginnen: da weiß man nicht recht, welcher von beiden der Preis der sauersten Zitrone gebührt – dem schon von der Werkauswahl her äußerst fragwürdigen Wiener „Spartacus“ oder dem neuen St. Petersburger „Nussknacker“. Welch ein Aufwand in beiden Fällen für derart aufgeblasene Nichtigkeiten! Dies sind zwei Produktionen, die allen Verächtern des Balletts reichlich Munition liefern.

Hätte ich als Nummer drei noch die beiden Blanka Li-Produktionen an der Berliner Komischen Oper genannt, wenn ich sie gesehen hätte (was ich mir nach der Lektüre der Premierenkritiken erspart habe – es wäre ein zu kostspielige Investition gewesen)? Ich fürchte: ja! So verbuche ich sie als eins der Symptome der permanenten, nun schon seit Jahren fortschwelenden Berliner Ballettkrise. Noch immer ist dort nicht der leiseste Hoffnungsschimmer auszumachen – auch wenn Vladimir Malakhov nun an der Staatsoper sein neues Regime antritt, begleitet von der Skepsis, wie er seine fortbestehenden transkontinentalen Tänzerambitionen mit seinen direktorialen Verpflichtungen in Einklang bringen will (wie schwierig das ist, demonstriert ja Vladimir Derevianko in Dresden, das unter seiner Ballettleitung in tiefsten Provinzialismus versunken ist).

Leicht übersehen wird dabei die stetige solide Arbeit, die an den meisten Theatern geleistet wird – ich denke da gerade auch an die kleineren Ensembles etwa von Mainz unter Martin Schläpfer, an Nürnberg unter Daniela Kurz, an Wiesbaden unter Ben van Cauwenbergh, an Essen unter Martin Puttke, an Mönchengladbach unter Heidrun Schwaarz, auch an Salzburg unter Peter Breuer – eine Liste, die sich sicher noch erweitern ließe, wenn ich (noch) mehr herumreisen würde.

Es hat ein paar Neuanfänge gegeben, über die ich Gutes gelesen (aber nicht gesehen) habe: in Graz unter Darrel Toulon und in St. Gallen unter Philippe Egli. Hierzulande zogen Pierre Wyss in Karlsruhe und Stephan Thoss in Hannover die meiste Aufmerksamkeit auf sich, beide mit vielversprechenden Auftaktpremieren, an deren Niveau die Übernahmen aus früheren Produktionen beider Chefs nicht ganz heranreichten. Karlsruhe allerdings konnte mit der „Johannes-Passion“ von Antonio Gomes in der Evangelischen Stadtkirche erheblich punkten. Eher skeptisch verfolge ich den Neubeginn in Basel unter Richard Wherlock, dessen „Sacre du printemps“ einmal mehr sein heikles Verhältnis zur Musik bestätigte (wie übrigens auch der Import des vielgerühmten Jacopo Godani beim Bayerischen Staatsballett).

Leipzig bereitet leichten Kummer wegen der krankheitsbedingten allzu häufigen Arbeitsunterbrechungen von Uwe Scholz. Stuttgart steuert ohne zu schlingern auf seinem von Reid Anderson markierten Kurs – mit immerhin vier durchaus diskutablen Uraufführungen in der letzten Saison (leider auch mit seinen fortgeschleppten altbackenen Klassikerproduktionen à la „Giselle“, „Schwanensee“ und „Don Quixote“).

München, das heißt das Bayerische Staatsballett, ist mit seinen ansehnlichen Klassikerproduktionen sicher die klassischste unserer großen Opernballettkompanien. Auch Zürich rechne ich zu diesen Erste-Liga-Kompanien, dank der Solidität (und der Musikalität) der Spoerli-Choreografien (bei Düsseldorf hätte ich da wieder gewisse Skrupel).

Einen Sonderrang nimmt aus meiner Sicht Hamburg ein, dass das Glück hat, in John Neumeier einen Choreografen mit ausgesprochen persönlicher Handschrift, hochsensibler Musikalität und ausgepichter Geschmackskultur zu besitzen. Ich rechne ihn unter den heute weltweit wirkenden Choreografen zu der Elite, deren Mitglieder an den Fingern einer Hand abzuzählen sind (für mich sind dies Jiří Kylián, Hans van Manen – und dann gerate ich schon ins Stocken – ganz gewiss nicht der in Amerika gründlich überschätzte Mark Morris). Neumeiers „Winterreise“ und „Die Möwe“ gehören denn auch zu meinen beglückendsten Erfahrungen der Spielzeit (und das nach den vorausgegangenen Kreationen seines „Nijinsky“ und seiner „Giselle“). Dank Neumeier ist das Hamburger Ballett mit allen seinen Solisten und Corps de ballet Mitgliedern heute für mich die beste deutsche Ballettkompanie – und eine der großen Kompanien der Welt!

Kummer bereitet hat die Frankfurter Kleinkrämerei um Forsythe. Persönlichen Kummer bereiten mir die sogenannten englischsprachigen Quassel-Ballette in der Forsythe-Nachfolge. Dagegen registriere ich mit Respekt den kontinuierlichen Reputationsgewinn der Schulen in Mannheim, Stuttgart, München und Dresden – aber auch in Zürich, dessen aus Absolventen der Schule hervorgegangene Juniorenkompanie eine der positivsten Neuentwicklungen der nun zu Ende gegangenen Spielzeit ist.

Unter den publizistischen Neuerscheinungen rangieren Patricia Stöckmanns „Kurt Jooss und das Tanztheater“, Stephanie Jordans „Moving Music“ und Greg Lawrences „Dance with Demons - The Life of Jerome Robbins“ für mich an der Spitze – unter den DVD-Aufnahmen Neumeiers „Illusionen wie Schwanensee“ und Kyliáns „black and white“.

Bedanken möchte ich mich bei meinen Münchner Entwicklungshelfern vom TanzNetz – eine der erfreulichsten Erfahrungen meiner langjährigen publizistischen Aktivitäten (und eine Entschädigung für die vielerlei Frustrationen in diesem Business während der letzten Jahre).

Ferien werde ich während der nächsten Wochen nicht machen, doch gar so häufig wie in den vergangenen Monaten werde ich mich hier nicht zu Worte melden – bis dann am 1. September die neue Saison mit der Balanchine-van Manen-Spoerli-Premiere in Zürich beginnt!

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