Robert Tewsley verabschiedet sich mit Onegin von seinem Stuttgarter Publikum

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Stuttgart, 03/05/2002

Auch wenn die Abschiedsvorstellung von Robert Tewsley als Mitglied des Stuttgarter Balletts nicht als Gala annonciert war, die Stuttgarter Ballettfans lassen sich solch eine Gelegenheit natürlich nicht entgehen, und so ging es denn durchaus galamäßig zu an diesem Abend – auf der Bühne wie im Zuschauerraum, wo man einander wieder einmal in den Armen lag. Das sind beglückende Erlebnisse – nicht zuletzt auch für den Kritiker, der hier erneut bestätigt fand, was ihm überall auf seinen Reisen seitens der Tänzer versichert wird: Stuttgart hat vielleicht nicht das beste Ballett, wohl aber das beste Ballettpublikum der Welt!

Und alle waren sich des Ausnahmecharakters dieser Vorstellung bewusst, die vorüberrauschte, als hätte man allen Beteiligten eine Extradosis Speed verabreicht: das glänzend aufgelegte Corps, das seine tänzerische Lebenslust aus allen Poren verströmte, der sich ganz fabelhaft entwickelnde Filip Barankiewicz als Lensky (da wächst uns offenbar ein Onegin von bedeutendem Format heran), die noch ein bisschen in ihrem Babyballerinenspeck schmorende Ivanna Illyenko als Olga, Melinda Witham und Ludmilla Bogart in ihren Seniorenpartien, der fesche Ibrahim Önal als Fürst Gremin, wahrlich ein schneidiger Oberkommandeur der St. Petersburger Gardekürassiere – und, natürlich, die hinschmelzend schöne Sue Jin Kang als Tatjana, unendlich zart und ganz eingeschmiegt in den Linienfluss ihrer aristokratischen Noblesse, die in ihrer porzellanhaften Fragilität eine kaum für möglich gehaltene Leidenschaftlichkeit und Entschlossenheit offenbart. Kang und Tewsley, sie waren hier noch einmal das Traumpaar, das an die von Cranko gestifteten legendären Partnerschaften aus der Aufbruchszeit des Stuttgarter Balletts erinnerte: Haydée und Barra, Keil und Clauss …

Eigentlich hätte Crankos Ballett „Tatjana“ heißen müssen, denn sie ist eindeutig dessen Mittelpunktsfigur, während er Onegin im Ball bei Larina und dann in St. Petersburg lange Leerlaufzeiten zumutet, wenn er auf offener Bühne so tun muss, als ob er von den Anwesenden nicht bemerkt würde. Tewsley zieht sich da mit Anstand aus der Affäre - ganz vergessen machen kann auch er nicht, dass seine Rolle in diesen Szenen unterchoreografiert ist. Tewsley überspielt das mit einer leicht blasierten Eleganz, die aus dem Ennui kommt, jener weltschmerzlich timbrierten Gelangweiltheit, die Puschkin dem Charakter seines Titelhelden als eine russische Variante nach dem Vorbild Lord Byrons angedichtet hat. Derart reklamiert Tewsley gewissermaßen Onegin als einen russischen Vetter des „düsteren Egoisten“ aus Byrons autobiografischem englischen Gedicht „Childe Harold‘s Pilgrimage“.

Das ist eine sehr individuelle Interpretation, durch die sich Tewsley von allen seinen hiesigen Rollenvorgängern unterscheidet. Indem er ihn im reinsten lyrischen Oxforder Klassikstil tanzt, stiftet er so eine direkte Achse London – Stuttgart – St. Petersburg: eine Erfahrung, die seinen Abschied umso schmerzlicher empfinden lässt, denn diese anglo-russische Geistesgenealogie tanzt ihm so leicht kein anderer nach. Aber da es sich bei seinem Karriereavancement zum Royal Ballet ja um eine freundliche, keine feindliche Übernahme handelt, dürfen wir wohl auf künftige Gastspiele in Stuttgart hoffen. Immerhin ist er hier ja von einem hoffnungsvollen Solisten zu einem Startänzer internationalen Formats gereift.

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