„Der Nussknacker“

Jahrgang 1934, aus St. Petersburg

oe
Baden-Baden, 28/12/2001

Das Ballett des Kaiserlichen Marientheaters in St. Petersburg hat unbeschadet an seiner Seele 72 Jahre Sowjetherrschaft überlebt – und inzwischen bereits fast ein Jahr auch die rufschädigende Neuproduktion des „Nussknacker“ von Michail Schemiakin (als Konzeptionist, Dramaturg, Inszenator, Bühnen- und Kostümbildner der Hauptverursacher dieses Desasters – der nothelfende Choreograf Kiril Simonow erscheint ihm gegenüber als ein armes Würstchen, Befehlsempfänger und Schrittlieferant für seine abstrusen Einfälle).

Ja, heute beginnt uns erst aufzugehen, dass es eben dank seines sturen zaristischen Konservativismus die finsteren Jahre zwischen 1917 und 1989 überlebt hat. Heute, da uns die Wiederbegegnung mit Wassili Wainonens „Nussknacker“-Produktion in der Ausstattung von Simon Wirsaladse aus dem Jahr 1934 im Baden-Badener Festspielhaus drei Tage nach der Notzüchtigung durch Schemiakin erleichtert, wie befreit von einem Albtraum aufatmen lässt.

Ja, er existiert noch in seiner ganzen strahlenden Schönheit, der Mythos vom Marientheaterballett des großen Petipa – und er ist kein bloßer Mythos, sondern herzbewegende Realität – und die Kompanie ist endlich, endlich, zu ihrem alten Namen zurückgekehrt, hat die Fratze ihrer Kirow-Konversion auf den Abfallhaufen der Sowjetgeschichte gekehrt, tritt jetzt wieder unter ihrem ehrwürdigen Namen als Mariinsky-Ballett St. Petersburg auf (wobei das Mariinsky ja nichts anderes bedeutet als seine ehrfürchtige Widmung an die Gottesmutter Maria).

Gewiss, dieser „Nussknacker“ ist Jahrgang 1934, doch nichts deutet darauf hin, dass seine Premiere siebzehn Jahre nach der Oktoberrevolution stattfand. Er ist eine einzige Liebeserklärung an Tschaikowsky und Petipa samt Iwanow und deren Huldigung – nicht an E.T.A. Hoffmann als Erfinder der originalen Geschichte vom „Nussknacker und Mäusekönig“, sondern an eine bürgerliche russische Märchenidylle aus dem St. Petersburg vom Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts (beziehungsweise deren Evokation der Puschkin-Ära – immer wieder fühlt man sich in der Ausstattung Wirsaladses und in der Inszenierung Wainonens mit ihrem Courtoisie-Kodex an „Eugen Onegin“ erinnert). Hier sind Stoff, Musik, Inszenierung, Ausstattung, Choreografie und tänzerische Ausführung eine Verbindung von einzigartiger Stimmigkeit und Harmonie eingegangen. Und das Ergebnis ist pure Schönheit – ein Abend der reinen theatralischen Magie.

Die Einstimmung durch das Orchester des Marientheaters unter dem Dirigenten Michail Agrest ist perfekt, die Russen musizieren diesen Tschaikowsky wie auf Zehenspitzen, ein Filigran, aus Glasfaserspitzen gewoben. Die Eingangspantomime mit den im Schneetreiben eintreffenden Gästen der Weihnachtsfeier im Hause Stahlbaum zieht sich ein bisschen arg in die Länge, aber wenn es dann ans Tanzen geht, ob nun in den Charakter- (und Kinder-) Tänzen des Anfangs, dem ersten, kristallinisch funkelnden Pas de deux für Klara und den Nussknacker-Prinzen. den Zauber des Schneeflocken-Walzers (und später des Blumenwalzers), die Charaktertänze des Divertissements oder den finalen Grand Pas de deux: das ist klassisches Ballett vom Feinsten, hautnah der Musik angeschmiegt.

Dieses wunderbar weich und fließend, so unglaublich kantabel tanzende Corps de ballet (in einzigartiger Harmonie selbst bis in die Schlussverneigungen), diese Solisten mit der gerade mal 22 Jahre alten Ukrainerin Swetlana Sacharowa als Klara (der neue Typ der Maryiinsky-Ballerina, schlank, hochbeinig, toller Spann, souveräne Virtuosität) und Igor Kolb als Nussknacker-Prinz (rank und schlank, pfeilschnelle Sprünge, weiche Landungen, Accent aigu-Schlusspositionen) und den fabelhaften Solisten des zweiten Glieds: man kam aus dem Staunen nicht heraus! So schön kann klassisches Ballett sein! 

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