Bilanz der Spielzeit 2000/2001

oe
Stuttgart, 30/07/2001

Wann soll man Bilanz ziehen, wo es heutzutage doch keinen markanten Einschnitt zwischen den Spielzeiten mehr gibt, da es beispielsweise im August, wenn bei uns so ziemlich alle großen Häuser geschlossen haben, in Berlin tänzerisch erst so richtig rund geht, Wien in seinem funkelnagelneuen Museumsquartier vier Wochen lang den „Impulstanz“ praktiziert, in München die „Tanzwerkstatt Europa“ tagt, Heidelberg zu seinem getanzten „Jedermann“ auf den Schlossberg einlädt und Weimar zu seinem reich mit Tanz bestückten Kunstfest – nicht zu reden von all den sommerlichen tänzerischen Aktivitäten in den romanischen Ländern, den Ferienkursen, „Stages“ und wie sie sich immer nennen.

Darum erkläre ich meinen Einschnitt hier und jetzt, um danach erst einmal ein bisschen Pause zu machen – verdient, wie ich meine, immerhin ist das koegler-journal, das sich ja als eine Art Tagebuch versteht, seit seinem Debüt am 31. März dieses Jahres bis Ende Juli sechsundfünfzig Mal erschienen – keine schlechte Bilanz, finde ich (weniger was meinen möglicherweise ja übertriebenen Eifer angeht als im Hinblick auf die Vielzahl der Ereignisse, die mir kommentierenswert erschienen sind).

Also meine beiden Top-Novitäten der Spielzeit, und ich nominiere die jetzt mal einfach so (die Begründung lese man in früheren Ausgaben des kj nach), waren eindeutig John Neumeiers genial klassisch-moderne „Giselle“ in Hamburg und Pina Bauschs so befreiend undeutsches, aller teutonischen Schwere lediges, derzeit noch namenloses Stück – in Anlehnung an Villa-Lobos´ berühmte „Bachianas Brasileiras“ sozusagen die „Bauschiana Brasileiras“.

Weiter in der Liste! Sonstige Erfreulichkeiten: Mats Eks „A Sort of...“ in München, das kontinentale choreografische Debüt des Senkrechtstarters Christopher Wheeldon in Hamburg und die Bekanntschaft mit dem jungen Belgier Stijn Celis bei seinem Mainzer Choreographen-Debüt mit dem Bartók-„Quartett“, Christian Spucks „Carlotta´s Portrait“ und Kevin O´Days „Dreamdeepdown“ in Stuttgart, Heinz Spoerlis Berio-„Folksongs“ in Zürich und Joachim Schlömers „Senza Fine oder Als Rimini noch schön war“ in Basel, Daniela Kurzens „The Fall of the House of Usher“ in Nürnberg, der ruhige und kontinuierliche Progress von Martin Schläpfer mit seinen Mainzern, die steil in die Höhe ziehende Karriere von Robert Tewsley (einer der weltbesten Apollos – absolut ebenbürtig den d´Amboise, Villella, Kronstam, Martins, Ib Andersen, Clauss und Baryschnikow), der Ballerina-Durchbruch Bridget Breiners als Novizin in der Stuttgarter Einstudierung von Robbins´ „The Cage“, die meteorhafte Karriere des Allround-Tänzers Eric Gauthier und die Entdeckung Friedemann Vogels, alle in Stuttgart sowie des fabelhaften Alexandre Riabko in Hamburg. Das interessanteste Gastspiel der Saison: Nacho Duatos „Formas de Silencio y Vacio“ mit seiner Compania Nacional de Danza in Baden-Baden.

Und nun zu den Unerfreulichkeiten: die enttäuschten Hoffnungen bei der Preljocaj-Premiere an der Berliner Staatsoper, der absolute Tiefpunkt der Saison bei Richard Wherlocks „Der Widerspenstigen Zähmung oder Kates Comeback“ (das besser „Fuck Me, Kate“ heißen sollte!) an der Komischen Oper in Berlin, die aufgedonnerte Hohlheit der operettenseligen Stuttgarter „Don Quixote“-Produktion, die Sturheit des Stuttgarter Ballettchefs, sich mit Margaret Illmann auszusöhnen und die schnöde Trennung von Jean Christophe Blavier, die offensichtliche Stagnation der Staatsopernballette in Dresden und Wien, die Verständnislosigkeit einiger Kollegen in ihren Rezensionen von Katja Erdmann-Rajskis „Gret Palucca“ für den völlig neuen Perspektivansatz in der Analyse von Tanzstücken und, nicht zu vergessen, die ärgerliche Unterbewertung der Ballettarbeit an den großen Häusern in „Europe´s Leading Dance Magazine“.

Und jetzt erst einmal tief Luft geholt vor der Erklärung „The Winner Is...“ Für die derzeit beste deutsche Kompanie halte ich – und das ist meine ganz persönliche Einschätzung – das Hamburg Ballett unter John Neumeier, gefolgt vom Stuttgarter Ballett und vom Bayerischen Staatsballett. Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Und damit verabschiede ich mich von der Ballettspielzeit 2000/01.

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