Nigel Charnock und Michael Riessler mit „fever“

oe
Ludwigsburg, 20/06/2001

Er gehört zu den schrillsten Persönlichkeiten der schwulen englischen Off-Szene, die sich im Post-Thatcher-Zeitalter längst aus dem Untergrund in das grelle Licht der Öffentlichkeit emanzipiert hat. Und sich inzwischen bis in die Karlskaserne der Ludwigsburger Schlossfestspiele vorgewagt hat. Und das ist gut so, schien nach siebzig Minuten der Beifall des Publikums ihn zu bestätigen: Nigel Charnock, als Schauspieler, Tänzer, Rezitator und Entertainer ein Theater-Hansdampf – nicht nur in allen Bühnengassen, sondern auch im Auditorium, wenn er durch die Gänge und Sitzreihen tobt, dass die Leute die Köpfe einziehen vor der Berserkergewalt, die sie da attackiert. Performer nennt man so einen ja wohl heutzutage.

Aber Charnock ist nur die eine Seite der Show, die unter dem von Shakespeare geborgten Titel „fever“ für beträchtlich erhöhte Temperaturen in der Reithalle sorgt. Die andere ist links auf der Bühne in Gestalt des Virus Streichquartetts präsent, mit ihrem Leader Michael Riessler, Komponist. Klarinettist und Saxophonist in Personalunion – als Musiker ebenso ein Allroundman wie sein sich abstrampelnder, sozusagen mit seinem und auf seinem Körper musizierender Partner, der mit dem musikalischen Erbe der Purcell & Co. ebenso rabiat umgeht wie das Charnock mit Shakespeares Sonetten tut.

Zusammen, einer auf den anderen eingehend, sich gegenseitig die Bälle zuspielend, bieten sie einen sinnbetörenden Motion-Sound-Mix quer durch die Jahrhunderte und die Medien – quasi als Zusammenfluss von Themse und Rhein nach der Klimakatastrophe, die die Temperaturen in den GAU hat schnellen lassen – oder doch zumindest die Temperaturen dessen, was früher einmal Liebe hieß – damals, bei Shakespeare und Purcell –, und was heute zu drei Buchstaben verkürzt ist, dafür aber in Versalien geschrieben wird: SEX.

Man mag bedauern, dass man vor lauter Schauen und dem Bombardement des Trommelfells mit den nicht nur von den Instrumenten, sondern auch von dem Körper Charnocks, seinen Herzschlägen, seinem Röcheln, Zischen, Schreien – einmal ganz abgesehen von seinen Worten – seinen auf den Boden getrommelten Staccati (die sich stellenweise zu markerschütterndem Flamenco-Gestampfe intensivieren) –, seinen Vibrationen, die veitstanzartig von ihm Besitz ergreifen und sich wellenartig durch seinen ganzen Body pflanzen, – dass über all diesem akustischen und visuellen Getöse man den Sinn der Shakespeareschen Verse kaum noch apperzipieren kann: Dass hier einer die Qualen und Ekstasen von Shakespares „My love is like a fever“ in einen physischen und psychischen Extrem-Exhibitionismus treibt. Er tut es mit einer Körperbeherrschung und einer Hochspannungsenergie, deren nicht nachlassende Stromversorgung mindestens ebenso beeindruckt wie die Power seiner Lungen und seines Kehlkopfes.

Der Mann ist wirklich ein Phänomen, ein Elementarereignis, das über das Publikum geradezu hereinbricht, das sich seiner nicht erwehren kann. Formidabel! Als hätte sich Nigel Charnock entschlossen. das steiflippige „Very British“ der Margaret Thatcher mit dem hedonistischen „Down Under“ des Tony-Blair-Zeitalters zu konterkarieren, das damit nicht mehr den Commonwealth-Partner Australien meint.

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