Pathos muss fließen

Jacopo Godani eröffnet mit einer Schönberg-Choreografie die Ballettwoche 2002 im Nationaltheater

München, 21/03/2002

Manchmal wird er unvermittelt laut, gibt knappe Kommandos, die den Akku wieder aufladen. Danach steigt Jacopo Godani von seinem Aussichts-Stuhl und erklärt den 27 Tänzerinnen und Tänzern des Bayerischen Staatsballetts freundlich, was er von ihnen will: „Ihr seid hundert Jahre alt und habt keine Kraft mehr.“ Man schleicht also mehr oder weniger graziös durch den Ballettsaal. Doch das ist es nicht, was Godani sehen möchte: „Stellt euch vor, ihr seht Leute, die sich langsam bewegen, und wollt euch bewegen, wenn sie sich nicht bewegen.“ Er macht es vor, die Bewegungen fließen, das einfache Gehen auf schwarzen Socken wird zum elastischen Senken und Wieder-Auffangen des ganzen Körpers. Und dann sagt er die Sätze, die modernen Tänzern und Choreografen zum Mantra geworden sind: Auch kleine Bewegungen sind wertvoll, nicht nur dreifache Drehungen in der Luft. Fühlt jeden Zentimeter eures Körpers!

Der 35-Jährige aus La Spezia probt mit dem Bayerischen Staatsballett für den Eröffnungsabend der diesjährigen Ballettwoche. Sein Stück „After Dark“ zu Schönbergs „Verklärte Nacht“ steht als Uraufführung neben der deutschen Premiere von George Balanchines Brahms-Schönberg-Quartett und „In the Night“ von Jerome Robbins (21. und 26. März, jeweils 19.30 Uhr). Auf das der Schönbergschen Musik zu Grunde liegende Gedicht von Richard Dehmel nimmt Godani keinen Bezug. Er erzählt keine Geschichte, sondern konzentriert sich darauf, Tanz zu machen und Leute mit Geist und Seele tanzen zu lassen. Und die Musik? Vom Orchester sollte sie live gespielt werden, das war die Bedingung des Hauses, die Godani akzeptierte, wenn auch ungern: „Die Musiker sind oft schlechter als die Tänzer, uninteressierter und unvorbereiteter“, sagt er und ist gleichzeitig fasziniert von Schönbergs Komposition, weil sie sich auf der feinen Linie zwischen Abstraktion und Inhalt bewege, sehr ungegenständlich sei, aber auch sehr emotional. Die wie auch immer geartete Visualisierung eines Liebespaars im nächtlichen Wald gibt es bei Godani also nicht, trotzdem ist es auch für ihn wichtig, dass etwas passiert, auch wenn es abstrakt ist. „Ich lasse Leute nicht einfach auf die Bühne gehen. Entscheidend ist, wie man sie betritt und wie man sie wieder verlässt.“

Er lädt seine Choreografien mit Emotionen auf, macht Gefühle zum Ausgangspunkt seiner Arbeiten, wenn er sich neben phantastischer Literatur „von heart and soul“ des Alltagslebens inspirieren lässt. „Mir ist wichtig, dass sich das Publikum vom emotionalen Pathos der Tänzer berühren lässt.“ Darin unterscheidet er sich markant von seinem Mentor William Forsythe, der für seine Choreografien von abstrakten Bewegungsprinzipien ausgeht. In Forsythes Frankfurter Ballett hat er von 1991 bis 2000 getanzt und choreografiert. Godani gehörte zu jener Gruppe kreativer Tänzer im Frankfurter Ensemble, die Forsythe eigene Schritte vorstellten und dann, bei Gefallen, den anderen Tänzern beibrachten. So war er am Entstehungsprozess von Werken wie „ALIE/NA(C)TION“, „Quintett“, „Eidos:Telos“ oder „Sleepers Guts“ eng beteiligt. Zeitgleich begann er für die Frankfurter Kompanie und andere Ensembles eigene Stücke zu kreieren, was schließlich so überhand nahm, dass er das mit der Arbeit bei Forsythe nicht mehr vereinbaren konnte. Forsytheisch in den eigenen Arbeiten zu sein, sagt Godani, damit habe er kein Problem, wie er auch nie eines mit Forsythe hatte, wenn man ihn danach fragt, wie er sich neben einer so starken Künstlerpersönlichkeit behaupten, wie das Epigonentum überwinden konnte. „Wer nur das Epigonale sieht, übersieht, wie eng ich mit Forsythe zusammengearbeitet habe.“

Godani ist ein sehr gefragter Choreograf. In Frankfurt hat er noch ein Apartment, ist aber kaum zu Hause. Seine Werke sind unter anderem im Repertoire des Royal Ballet in London, des Ballet du Rhin, des Tanzwerks Nürnberg und des Göteborgsballetten in Schweden, der Compañía Nacional de Danza von Nacho Duato und des Nederlands Dans Theater (NDT). Letzteres ist jetzt ebenfalls Gast in München, hat aber keinen Godani im Gepäck, sondern authentische NDT-Ware (am 22., 23. und 24. März).

Seine Ausbildung begann Godani bei Loredana Rovegna, studierte dann an der Mudravon Maurice Béjart in Brüssel und arbeitete danach als freier Choreograf, bis er zu Forsythe kam. Ihm liegt die Arbeit mit großen Kompanien, die erlaubten zwar nicht das volle choreografische Risiko (das könne man nur mit Leuten eingehen, mit denen man eng und lang zusammen forsche), doch ermögliche sie die Konzentration auf die künstlerische Arbeit, ohne dass man sich um zeit- und nervenaufreibendes Management kümmern müsse. Die Unterscheidung in klassische und moderne Kompanien hält er sowieso für obsolet: Beim klassischen Tanz kommt es darauf an, wie man ihn interpretiert. Wenn man ihn nur als Nummer betreibt, geht gar nichts. Godani macht ihn sich zunutze, vermeidet jedoch die im klassischen Tanz übliche Fixierung auf die Positionen. Die Bewegungen müssen so entwickelt werden, dass sie sich natürlich anfühlen, dass sie fließen und logisch sind.

In der Probe fordert er die Tänzer immer wieder auf, die eingenommenen Posen nicht zu lange zu halten, sie als Durchgangsstationen zu begreifen. Godani erklärt die Bewegungen, ihren Charakter, ihre Färbung. Er verwendet Bilder, mit denen er die spezifische Energie einer Sequenz beschreibt. Das zu verstehen, sagt er, sei Sache des Gehirns. Tänzer müssten erkennen, welches Potenzial sie in sich haben. Das erfordere ein Umdenken. Wer sich dagegen wehrt, das Glas einmal anders zu greifen als sonst, kapiert nicht, dass es auch anders geht. „Das ärgert mich, denn es ist leichter zu sagen, oh, ich bin das Opfer, anstatt etwas zu machen. Ich möchte, dass man anerkennt, welche Möglichkeiten man hat.“ Er sieht sich nicht als Künstler, der nun nach vielen anderen Kompanien auch der Münchner seine Kreation auf den Leib schreibt, stattdessen als jemand, der Leute trifft und mit ihnen zusammen fünf, sechs Wochen lang Erfahrungen macht. Er gibt den Raum dafür. Die Tänzer sollen die Gelegenheit haben, fantastisch zu sein. Voraussetzung dafür sei, das Starsystem zu brechen. Damit, und da richtet er sich durchaus an die Direktoren eines klassischen Ensembles, steigert man das Niveau der gesamten Kompanie.

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