Der Eitle nimmt den Prinzen kaum wahr. Tanz: Raffaele Scichitano, Maria Bayarri Pérez

"Der Kleine Prinz" von Hans Henning Paar. Tanz: Raffaele Scichitano, Maria Bayarri Pérez

Fata Morgana in der Wüste

Hans Henning Paar bringt Saint Exupérys Welterfolg „Der Kleine Prinz“ zum Tanzen

Menschliche Schwächen wie Stolz, Sucht, Geiz, Eitelkeit, Engstirnigkeit und Unmündigkeit sowie unseren gesellschaftlichen Ist-Zustand porträtiert Paar mit spärlichen tänzerischen Mitteln treffend. Pirouetten, wenige Hebefiguren, ausgreifende Armbewegungen, das ist schon fast alles.

Münster, 27/10/2021

Von Hanns Butterhof

Am Kleinem Haus des Theaters Münster hat Chefchoreograf Paar nach Braunschweig 2002 und München 2008 zum dritten Mal Antoine de Saint Exupérys Welterfolg „Der Kleine Prinz“ auf die Bühne gebracht. Kein Wunder, dass er den „kleinen Prinzen“ immer wieder choreografiert. Das nah an der pantomimischen Bebilderung angesiedelte Handlungsballett hat mehrere Ebenen und ist eine Aufforderung für die jungen und älteren Zuschauer*innen, den Tanz mit dem Herzen zu sehen.

Antoine de Saint Exupérys Erzählung „Der Kleine Prinz“ aus dem Jahr 1943 bietet dazu viel. Für Kinder lustige und süße Figuren, für Erwachsene Lebensweisheit in Märchenform. Der Schlüssel zum Verständnis der aufgeklärten Inszenierung, die es nicht beim Märchenhaften und beschaulich Unverbindlichen belässt, liegt in den beiden ersten und letzten Szenen, die die Handlung rahmen.

Zunächste heult der Bühnenwind, der verunglückte Pilot (Leander Veizi) liegt im Wüstensand, als sich von der Seite eine Schlange (Charla Tuncdoruk in geschupptem Ganzkörpertrikot; Kostüme: Isabel Kork) mit fließenden Bewegungen hereinschiebt. Nicht ohne mit fliegenden Händen klappernd Gefährlichkeit angedeutet zu haben, verabschiedet sie sich fürs erste vom Geschehen. Unter dissonanten Klaviertönen betritt dann rückwärts gehend eine Erscheinung im weißen Anzug mit dunklem Haar die Bühne. Erstaunt und etwas vorsichtig nimmt sie den sich aufrappelnden Piloten wahr. Wie einander spiegelnd umkreisen sie sich, bis sie sich näherkommen und schließlich Ruhe finden. Rücken an Rücken sitzend, den Kopf auf der Schulter des Anderen, scheinen es nicht zwei verschiedene Personen zu sein. Vielmehr hat der Pilot in der Wüste eine Fata Morgana: den Kleinen Prinz, getanzt von Maria Bayarri Pérez.

Der Kleine Prinz hat zunächst den Wunsch nach einem Schaf, das ihm der Pilot in zwei Varianten liefert. Ein dickes Schaf (Chiara Bonciani im Flokati-Anzug) wird vom unzufriedenen Prinzen von der Bühne geschubst, ein zu altes Schaf (Matteo Mersi), dessen X-Beine immer einknicken, wackelt durchs Publikum davon. Erst als der Pilot scherzhaft das wollige Futter der Pilotenkappe nach außen kehrt, „mäh!“ und weite Sprünge wie das gewünschte Schaf macht ist der Kleine Prinz zufrieden. Durst macht wohl high.

Da sich die weiteren Szenen, Illustrationen der Erzählungen des Kleinen Prinzen, nur im delirierenden Bewusstsein des Piloten abspielen, kommt dieser zunächst nicht mehr vor. Durch diese Szenen mit ausgewählten Stationen seiner Reise zu sehr passenden Musikstücken von Erik Satie treibt der Prinz tänzerisch eher passiv, mit neugierigen Augen meist verwundert auf das Geschehen blickend, in das er hineingezogen wird.

Man sieht zunächst den Prinzen auf seinem Heimatplaneten, wo rot der Krater des Vulkans glüht, an dem er sich die Hände wärmt. Affenbrotbäume (Marieke Engelhardt, Eleonora Fabrizi, Ilario Frigione, Raffaele Scicchitano im weißen Ganzkörperkostüm, aus dem viele grüne Hände wuchern), die alles überwuchern wollen, muss er beständig herausreißen. Schließlich braucht er Platz für die zickige Rose (Fatima López Garcia), die er liebend umsorgt. Sie scheint ihn bei ihrem extravaganten Spitzentanz kaum zu bemerken und entzieht sich, sobald der Prinz nach ihrer Hand hascht. Mit einem Fingerzeig schickt sie ihn auf seine Tour in den Weltraum.

Er trifft zuerst auf einen König (Enrique Sáez Martinez), der mit langer Schleppe weit ausgreifend über die Bühne stolziert und ihn mit dem Reichsapfel zum Untertanen verführen will. Doch der Prinz will, statt die Schleppe zu tragen, nur mit ihr seine Späße treiben. Auf dem nächsten Stern begegnet er einem Säufer, der mit Stuhl, Tisch und einer Weinflasche eine groteske Einheit auf Rädern bildet. Mühsam hält er das Gleichgewicht und beständig scheitern seine Versuche, aufzustehen und den Fesseln seiner Konstruktion zu entkommen.

Die Zahlen eines Geschäftsmanns tanzen zwar ausgelassen schuhplattelnd zu Kirmesmusik mit dem Prinzen. Aber der Geschäftsmann (Ilario Frigione) zählt sie nur voll Gier. Wenn er auf seinen schwarzen Hut schlägt, ertönt zur allgemeinen Heiterkeit ein Klingelzeichen wie von einer alten Ladenkasse.
Dann trifft der Prinz einen Eitlen (Raffaele Scichitano mit Elvis-Haartolle und weißem Anzug). Der hält in jeder Hand einen Spiegel, in dem er sich selbstverliebt betrachtet. Geziert schwänzelt er über die Bühne und braucht den Prinzen nur als Publikum. Ein Vermesser (Matteo Mersi) verscheucht ihn dann schnell, weil er beständig die Kreise seines Zirkels (Eleonora Fabrizi) stört, und ein Laternenanzünder (Adrián Plá Cerdán) befolgt atemlos den unsinnigen Befehl, beim Dunkeln die Laterne seines sich im Minutentakt drehenden Planeten anzuzünden und sie kurz darauf beim Hellwerden wieder zu löschen.

Zu Verkehrslärm und kakophonen Urwald-Geräuschen kommt der Kleine Prinz dann offensichtlich auf der Erde im Heute an. Gleichgeschaltete Menschen laufen im Marschschritt auf die Bühne und wieder herunter, ohne von irgendetwas Kenntnis zu nehmen. Jemand versucht sich daran, den Verkehr zu regeln, doch ruckelnd fahren Bahnreisende ziellos hin oder her. Jeder spricht in sein Handy, aber keiner mit seinem Nachbarn. Da verabschiedet sich der verstörte Kleine Prinz in seine Traumwelt. Zur Melodie eines französischen Chansons tanzt ihm seine geliebte Rose in fünffacher Gestalt beschwingt etwas vor. Der Pilot kommt zurück, und wie zu Beginn an ihn gelehnt sieht der Kleine Prinz liebevoll erst seine Rose, dann wieder die Schlange. Im Tanz mit ihr, die ihren letzten Dienst an ihm getan hat, verschwindet der Kleine Prinz, erlischt die Fata Morgana des Piloten.

Menschliche Schwächen vom Stolz über Sucht, Geiz, Eitelkeit, Engstirnigkeit und Unmündigkeit sowie unseren gesellschaftlichen Ist-Zustand porträtiert Paar mit spärlichen tänzerischen Mitteln. Pirouetten, wenige Hebefiguren, ausgreifende Armbewegungen, das ist schon fast alles. Es überwiegt das Allegorisch-Pantomimische. Das macht es Kindern leicht, darüber zu lachen, und ermöglicht es Erwachsenen den Tanz mit dem Herzen zu sehen, mitzuleiden an der Menschheit, ohne sich darüber zu erheben. Dieser „Kleine Prinz“ mit seinem tödlichen Ende ist nur dann keine Tragödie, wenn man die Hoffnung hat, das Sehen mit dem Herzen von den Sternen herunter auf die Erde holen zu können. Nach einer guten Stunde Tanz viel Beifall für das Ensemble, vor allem für Maria Bayarri Pérez als Prinz und Charla Tuncdoruk als Schlange.

Nächste Vorstellungen: 30.10. und 20.11. um 19.30 Uhr, 14.11. um 15.00 Uhr, 12. und 26.12. um 18.00 Uhr.

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