"memento"

"memento" von Tim Plegge

Scheiden und Meiden

Uraufführung beim Hessischen Staatsballett: „memento“ von Tim Plegge

Der Übergang vom Ballettdirektor zum Hauschoreographen erzeugt am Hessischen Staatstheater Darmstadt auch einen neuartigen Tanzabend.

Darmstadt, 19/10/2021

Von Bernd Feuchtner

Nach sechs Jahren des erfolgreichen Auf- und Ausbaus des Hessischen Staatsballetts im Spagat zwischen Wiesbaden und Darmstadt entschied sich Tim Plegge, auf die Position des Hauschoreographen zu wechseln. Seine Position als Ballettdirektor nimmt nun der bisherige Kurator Bruno Heynderickx ein. Plegge hatte sich in den letzten Jahren mit Stücken wie „Sommernachtstraum“ oder „Winterreise“ erstaunlich entwickelt, wobei er der pantomimischen Erzählung mehr und mehr entsagte und alles vorwiegend durch Tanz ausdrückte. Dabei stärkten auch die Tänzerinnen und Tänzer der Kompagnie ihre Ausdruckskraft und Individualität.

Und dann kam Corona. Statt eines stürmischen Aufbruchs die zweimalige Verlegung des Premierentermins für das erste Stück des Hauschoreographen. Die vorgesehene Musik, die groß besetzte Sinfonie „Asrael“ von Joseph Suk, war nicht mehr möglich. Doch da jedem Anfang auch ein Zauber innewohnt, bot die verlängerte Produktionszeit auch Chancen: Der Druck für ein schnelles Ergebnis war weg, und die Brüche brachten die Möglichkeit von Revisionen. Herausgekommen ist ein Ballettabend, der auf einen Handlungsstrang verzichtet und sich ganz auf die Narrationskraft der Körper verlässt. Dennoch hat er ein Thema: „memento“ bedeutet den Aufruf zum Innehalten. Ein „memento mori“ ist die Erinnerung, einerseits das Leben nicht zu vergessen, andererseits aber auch den Tod nicht zu verdrängen, der unlösbar damit verbunden ist. Oder einfach eine Aufforderung, Trennungen und Abschieden mit Würde zu begegnen.

Ein hinreißend schönes Labyrinth aus weißen Stoffen (Andreas Auerbach) unterteilt die Bühne oder bildet unterm Schnürboden eine Skulptur; den Rest besorgt die klare Lichtgestaltung (Tanja Rühl). Sechs Paare durchleben hier verschiedene Stadien und unterschiedliche Formen von Trennen und Loslassen. Unter ihnen ist auch je ein Männer- und ein Frauenpaar, ohne dass das eine Rolle spielte. Judith Adam hat sie in hautfarbige Kostüme gekleidet. Entweder tragen sie eine lange Hose mit Unterhemd oder ein lockeres Hemd über der Unterhose, und das ebenfalls ohne Ansehen der Geschlechter. Es geht ja nicht um Liebesschmonzetten oder Melodramen, sondern um tiefere Gefühle und Empfindungen. Diese Individuen sind konfrontiert mit – oder eingebettet in – einer Masse schwarz Gekleideter. Ihre Masse ist quasi unsichtbar, sie greifen aber immer wieder in die Duette ein und ringen dem Partner das Gegenüber ab.

Ganz ohne Erzählung geht es dann aber doch nicht. Am Anfang wird eine amorphe Gestalt projiziert, die sich allmählich zu einem menschlichen Körper formt und erhebt, bis schließlich ein Tänzer dahinter sichtbar wird. Und die „Partikel“, wie Plegge die schwarzen Gestalten des Corps de ballet nennt, scheinen mit ihrem kollektiven Move nicht nur den dunklen Untergrund des Menschenlebens zu verkörpern, sondern auch das Weben der Natur. Schließlich erscheint „Klärchen“, in einen Mantel gewickelt wie in ein Steppbett, eine weißhaarige Frau, die sich in Plegge-Texten ausspricht, die von der Schauspielerin Jana Schulz deklamiert werden. Etwa: „Meine Hände bewegen sich auf dich zu / Dann an den Nacken, an die Knie, an den Mund / Spürst du den Wind? / Noch erkenne ich dich“. Klärchen ist unsere Stellvertreterin auf der Bühne, sie schaut mit unseren Augen, stellt unsere Fragen. Erst zum Ende hin legt Ludmila Komkova die Perücke ab und blickt uns in verjüngter Form an.

Obwohl doch ständig Trennungen stattfinden, ist der Abend getragen von großer Ruhe. Dazu trägt auch die Musik bei, denn Max Richters Verfremdung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ macht daraus eine minimalistische Klangfläche, aus der jede Unmittelbarkeit getilgt ist – Johannes Zahn dirigiert das sehr emphatisch, und der Konzertmeister glänzt mit seinen Geigenkünsten, ohne sich hervorzutun. Auch wenn später „Soundflächen“ von Peer Baierlein und Roald Baudoux samt einem Einbruch heftiger Rockmusik dazukommen, wird der Tanz nicht weniger innig. Die Paare gehen emphatisch miteinander um, sei es in der Vereinigung, sei es, wenn sie auseinandergerissen werden. Es ist die hohe Schule des Loslassenkönnens, was uns da vorgespielt wird.

Ein erzählerisches Element ist auch das gigantische schwarz glänzende „Luftobjekt“ (Frank Fierke), das sich auf die Bühne wälzt und dort ganze Tänzer verschluckt, bis es sich wieder zurückzieht – der Lockdown ist vorbei. Zum Schluss kommen Bühnenarbeiter auf die Bühne und beginnen mit dem Abbau: Auch mit diesem so intensiven wie lang nachklingenden Ballettabend ist es irgendwann aus. Das Darmstädter Publikum war sichtlich glücklich, sein Ballett nach langer Zeit wieder vollständig erleben zu können und feierte alle Beteiligten mit Ovationen.

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