Von Engeln, Menschen und Bienen

Die Kanadierin Crystal Pite erfährt mit "Angels’ Atlas" in Zürich großen Zuspruch

Prunkstück der Eröffnungspremiere beim Ballett Zürich war Crystal Pites "Angels’ Atlas" (2020), das als Titel über dem dreiteiligen Programm steht. Pites "Emergence" (2009), ein Ballett über Bienen und Menschen, hatte bereits vor ein paar Jahren die Herzen des Zürcher Publikums erobert und wurde jetzt wieder aus dem Fundus geholt. Marco Goecke präsentierte "Almost Blue" (2018).

Zürich, 03/10/2021

Pites "Angels’ Atlas" hätte eigentlich schon vor anderthalb Jahren in Zürich zur Uraufführung kommen sollen, gleichzeitig mit Toronto. Denn das Stück von Crystal Pite war in Co-Produktion entstanden. Doch Corona funkte dazwischen. So konnte das Ballett Zürich "nur" noch eine Europäische Premiere bieten. Macht nichts. Die hohen Erwartungen haben sich weitgehend erfüllt. Es ist ein pathetisches Stück geworden, welthaltig und von tiefem Ernst. So ernst, dass man beinahe dankbar ist für ein paar kitschige Momente, die auch nicht fehlen.

Was bedeutet der Titel "Angels’ Atlas"? Auf diese Frage antwortet Pite im Zürcher Programmheft: "Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen." Also etwas, das sich im unbekannten Bereich zwischen Erde und Himmel abspielt.

Zum mystischen Arrangement des kanadischen Komponisten Owen Belten gehört auch kirchliche Vokalmusik von Tschaikowski oder Morten Lauridsen. Rund 40 Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich samt Junior Group erzählen von Adam und Eva, von Geburt und Tod, vom Lauf der Welt. Sie tragen schwarze Hosen mit weiten geschlitzten Beinen, dazu weisse Schlupfschuhe. Die Oberkörper der Männer sind nackt, die Frauen tragen durchsichtige Shirts. Nein, ein erotisches Ballett ist «Angels’ Atlas» trotzdem nicht - und auch kein heiteres.

Fast geräuschlos und gleichzeitig sehr dynamisch bewegen sich die Tanzenden über die Bühne, mit weit ausholenden Bewegungen. Einfache Formen steigern sich zu höchst komplizierten Verbindungen, auch zu virtuos synchron getanzten Massenszenen. Wie auf einem Bilderbogen ziehen sich geschichtsträchtige oder religiös anmutende Szenen über die Bühne. Pites Phantasie scheint kaum Grenzen zu kennen und die Kraft der Tanzenden ebenso. Sie sind hervorragend. Das Ballett Zürich lässt sich mit den besten Ensembles Europas vergleichen.

Hoch intensiv ist die Lichtgestaltung von Jay Gower Taylor, Pites Lebenspartner, die er zusammen mit Tom Visser entwickelt hat. Eine durch Scheinwerfer und Spiegel sich ständig verändernde Lichtwolke schwebt über der Bühne, bestreut sie mit Feuerkernen und Kristallglanz, weist hin aufs Jenseits.

Heiterer als "Angels’ Atlas" ist Crystal Pites schon früher entstandenes Stück "Emergence". Auch dieses Ballett hat Musik von Owen Belten als Basis. Da schlüpfen Bienen aus der Wabe, strecken die Fühler aus, übernehmen bestimmte Funktionen im Bienenstaat und entwickeln ihre erstaunliche Schwarmintelligenz. Drohnen - männliche Bienen - buhlen um die künftige Königin, um dann tot auf den Rücken zu fallen, wenn das Ziel erreicht ist. Die Königin zieht sich in ihre Residenz zurück - und der Kreislauf beginnt von neuem.

"Emergence" geht vom klassischen Ballettstil aus, entwickelt darüber hinaus freie zeitgenössische Elemente. Diese ahmen manchmal charakteristische Bewegungen der Bienen nach. Ähnliches gilt für Kostüme und Schminke. Lustig. Auch parodistische Elemente kommen vor in diesem "Handlungsballett" unter Brummern. Wenn die weiblichen Bienen, in Corselets mit schmaler Taille und auf Spitzen, gruppenweise eine wild gewordene Drohne jagen – ist es da vermessen, an die weißen Akte in "Schwanensee" oder "Giselle" zu denken?

In krassem Kontrast zu Crystal Pites reich beladenen Balletten steht Marco Goeckes "Almost Blue". Fünf Tänzer und vier Tänzerinnen, die einander kaum je berühren, bevölkern die Bühne. Sie bewegen sich ruckartig, wackeln mit dem Kopf, zucken mit den Schulten – wie gesteuert von einem Computer. Dazu hoch emotional gesungener Blues von Etta James und Antony Hegarty. Goecke hat dieses Stück, wo auch Dreck auf die Bühne geschüttet wird und Blut fliesst, aus Wut über das Stuttgarter Ballett geschaffen. Dieses hatte ihn, den langjähriger Hauschoreografen, 2018 bei einem Direktorenwechsel zwangsverabschiedet. Da war der Geschasste sehr wütend und verletzt.

Die Zeit heilt Wunden, wenigstens ein Stück weit. Goecke erhielt neue Aufträge wichtiger Truppen (auch vom Ballett Zürich unter Christian Spuck). Die Zeitschrift "Tanz" ernannte ihn zweimal zum "Choreografen des Jahres". Er wurde Ballettchef in Hannover, schuf hier das Stück "Der Liebhaber", wegen der Corona-Pandemie zunächst als Streaming verbreitet. Mit dem Stuttgarter Ballett versöhnte er sich. Seinen Zitterstil kultivierte er weiter. Dieser ist heute Goeckes weltweites Markenzeichen.

Das Zürcher Publikum spendete allen drei Stücken grossen Applaus, der sich für "Angels’ Atlas" zu Ovationen steigerte.

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