Die Enthüllung des Selbst

„Personne“ von Isabelle Schad und Laurent Goldring in der Tanzhalle Wiesenburg

Isabelle Schad inszeniert in ihrem Solo ein menschliches Drama, das ihr eigenes ist: sehr seltsam und ungewohnt, bizarr und wunderschön erscheint sie hinter der flüssigen Maske ihres Fingerspiels, um ihr Selbst zu ertasten, zu erforschen und zu entschlüsseln.

Berlin, 19/09/2021

Neben mir sitzt ein Mensch, der das Gesicht dieser Tänzerin nicht kennt. Er sieht Isabelle Schad in schwarzer Pluderhose, schwarzen Strümpfen und schwarzem Pullover, ein Ärmel zu Beginn nach oben geschoben, um den Unterarm zu entblößen, zum ersten Mal. Wen sieht dieser Nachbar, der wie ich, diesen schmalen langen Raum mit einem Mund-Nasenschutz betritt, so wie es das Gesetz uns befiehlt? Denn die Tänzerin bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. 40 Minuten lang dauert dieses magische Solo „Personne“. Ein Wunder der Selbst-Verhüllung und zugleich der Selbstentblößung geschieht. Die Hände sprechen in ihrer durchlässigen, kraftvoll artikulierten Beweglichkeit und Fragilität von der Form und Sprache ihrer hier nur erahnten Miene.

Wir wissen, es sind Hände einer Tänzerin, die auch musiziert hat, eine Tänzerin, die kraftvoll kneten kann in Shiatsu-Massagen, eine Choreografin, der es gegeben ist, große Menschenknäuel in ausladenden Bühnenräumen zu orchestralen Körperketten zu verzahnen und in kollektiven Sprüngen rhythmisch aneinander zu koppeln. Hier, in ihrer zunächst düster beleuchteten Tanzhalle Wiesenburg, im noch kriegszerstörten Gebäudekomplex eines früheren Obdachlosenasyls an der Berliner Panke, geht sie in Klausur und erneut in Zwiesprache mit dem bildenden Künstler Laurent Goldring. Die Choreografie ist die Frucht einer erneuten engen Kooperation mit ihm. Obwohl jeder stets an seinem eigenen Projekt arbeite, so betonen sie, sei es ein „Gemeinschaftswerk“. Entstanden ist es wärend der Pandemie. Für Isabelle Schad geht es um die „Verkörperung von Gesichtern durch Hände, um das Selbst als Bewusstsein, nicht als Ego.“ Der Körper darf verschwinden. Goldring zeigt parallel in einer Ausstellung Isabelle Schads Gesicht, von Händen verhüllt. Es sind Film-Loops, betitelt „Les yeux sans regard“ (Augen ohne Blick), die während des Arbeitsprozesses zu „Personne“ entstanden sind.

Ist es ein Verhüllen oder eine Offenlegung, wenn ich Wesentliches nicht zeige? Diese Frage bedrängte mich, als ich zuschaue, wie die gespreizten Finger als Fächer das Gesicht umschwirren. Wenn sie tasten, schieben, kneten, drücken, sich verschränken, falten und umstülpen, sodass die Konturen der verdeckten Stirn, Nase, Augenpartie und der Wangen, die Struktur von Mund und Kinn ein Ahnung bekommen von ihrer Dreidimensionalität, der Rundung und Wölbung der Knochen. Es sind Hände, die um etwas ringen und dabei permanent atmen und tanzen, mal als federleichte Flügelspitzen, mal als Pranke. Mit leichter Beckendrehung, ein Fuß sparsam schräg vor dem anderen, schreitet sie vorwärts und rückwärts. Die Bewegung des Gehens pflanzt sich fort durch ihre weiche, bewegliche Struktur der Wirbelsäule bis hinauf zu den flexiblen Armen und Händen, die mal horizontal, mal vertikal oder nur vor einer Gesichtshälfte – die andere ist ins Dunkle gedreht – ihr Antlitz abschotten, bedecken, begleitet von dem an- und abschwellenden Sound ihrer eigenen abgedämpften Atem- und Stimmgeräusche. In kurzen Pausen zeigt sich die Tänzerin still von hinten.

Wenn wir Alltagsmenschen die Hände vors Gesicht schlagen, geschieht es meist durch emotionale Zustände, um Trauer und Tränen zu verbergen oder etwas nicht sehen zu wollen. Facepalm, so nennt sich eine Geste im Internetjargon. Verschleierung und Maskierung haben den Sinn, das Selbst ins Abseits zu schicken, es zu schützen. Im Ausdruckstanz war die Maske Instrument, um das Persönliche des Menschen in den Hintergrund treten zu lassen und den Körper einer bestimmten Figur in den Vordergrund. Mary Wigman benutzte sie in ihrem „Hexentanz“ und im „Totenmal“, um sich selbst zu neutralisieren. Harald Kreutzberg, um zu zeigen, wer er noch war: „Die Eitle“, „Die Dirne“, „Der Zecher“, „Der Kranke“.

Isabelle Schad kehrt diesen Vorgang um. Sie inszeniert ein menschliches Drama, das ihr eigenes ist: sehr seltsam und ungewohnt, bizarr und wunderschön erscheint sie hinter der flüssigen Maske ihres Fingerspiels, um ihr Selbst zu ertasten, zu erforschen und zu entschlüsseln. Im Verlauf dieses feinen Prozesses schält sich ihre Identität heraus, ihre Persönlichkeit. Zum Schluss zeigt sie ihr Gesicht. Nackt und sehr verletzlich erscheint es mir im hellem Bühnenlicht. Ertappt. Doch mutig und bereit, wieder leer zu werden – für einen ganz neuen künstlerischen Prozess.

Von Irene Sieben

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