Jeder hat sein Tempo

„Zeitfenster“, neue Choreografie von Jessica Iwanson

München, 02/03/2002

Wie viele Stücke sie hier in München produziert hat? Genau kann Jessica Iwanson das spontan nicht sagen. Über hundert sind es seit den Siebziger Jahren insgesamt, wenn man die in ihrer Heimat Schweden, in Norwegen, Finnland und Dänemark entstandenen hinzuzählt. Hier ist die im letzten Jahr mit der Medaille „München leuchtet“ in Silber ausgezeichnete Choreografin und Pädagogin eine Institution.

„Lebt die Iwanson eigentlich noch?“ habe vor kurzem ein Freund einer Schülerin gefragt, erzählt sie und lacht. Entspannt. „Für das Stadttheater zu produzieren wie in Malmö oder Göteborg, ist praktisch, aber ich mache sehr gerne kleine Dinge, und da ist es gut, wenn der Zuschauer nicht so weit weg ist vom Tanz“, meint sie. Sie hat sich damit arrangiert, dass auf der eigenen Studiobühne nur an Wochenenden Vorstellungen stattfinden können, weil sonst Studenten und Schüler die Räume bevölkern. Dafür geht aber alles so fix, wie sie sich das vorstellt, „anderswo dauern die Lichtproben ewig, und man steht dann kurz vor der Premiere da mit völlig erschöpften Tänzern.“

Und sie ist nicht nur auf eine Bühnensituation festgelegt. Denn bis die eigentliche Vorstellung von „Zeitfenster“ beginnt, findet im ganzen Haus an der Adi-Maislinger-Straße 12 (in der Nähe vom Heimeranplatz) etwas statt: Doris Würgert zeigt Videoprojektionen, in einem Raum tanzt ein Paar, später führt die Schauspielerin Bina Schröer durch die einzelnen Szenen, erzählt von Englischstunden, vom Herrschen und Beherrschtwerden. Die kurzen Texte stammen von Gertrude Stein, Samuel Beckett, Heiner Müller oder Karl Valentin; sie kreisen um das Thema „Zeit“ und geben den Impuls, den Anstoß für eine Bewegung. Doch nicht zu viele Worte sollen es sein, leicht gerät man ins Plappern. Das mag Iwanson nicht. Gibt selbst eher sparsam Auskunft. Auch die Szenen ihrer Stücke beschreibt die Choreografin nicht mit Worten, sondern zeichnet sie auf. Wie für einen Film hält sie jede „Einstellung“ in Skizzen fest. Wie häufig bei ihr sind es auch im aktuellen „choreografischen Panoptikum“, wie „Zeitfenster“ untertitelt ist, in Stimmung und Format ganz unterschiedliche Geschichten, die sich auf einer realen und einer poetischen Ebene abspielen, zu Musik unter anderem von Steve Reich und Robert Schumann.

„Ich erzähle immer dieselbe Geschichte“, sagt Jessica Iwanson, „von Leuten, die einsam, auf Reisen oder leicht verrückt sind.“ Darum kreisen ihre Gedanken und ihre Fragen. Ihren Tänzern Aline Goeppert, Lil Rösch und Erich Rudolf gibt sie einen Bewegungsimpuls vor. Der wird bearbeitet, das so entstandene Material nimmt Iwanson dann wieder auf und legt die Choreografie fest. Der Einfluss der Tänzer ist ihr wichtig, denn „jeder Mensch hat sein eigenes Tempo“, aber nur zu improvisieren, um Bewegungen zu finden, das geht ihr zu langsam, damit kann sie sich auch nicht mehr identifizieren. „Ich bewahre mein Eigenes“, sagt sie, und das falle ihr auch nicht schwer, selbst wenn in ihrer Schule die Gastlehrer den allerneuesten tanztechnischen und choreografischen Schrei mitbringen. Das gebe Impulse, aber sie wolle das Ihre immer wieder neu machen. Zum Ureigenen ist sie darüber noch nicht gekommen. Seit Jahren redet sie davon, ein Solo für sich selbst zu kreieren. „Bitte, mach es endlich!“ höre sie schon stereotyp aus ihrer nächsten Nähe – „aber dann fahre ich nach Schweden und mache doch wieder ganz was anderes.“

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