Ballett-Film "Blitiri" von Goyo Montero
Ballett-Film "Blitiri" von Goyo Montero

Gänsehautverdächtig

Der Tanzfilm "Blitiri" von Goyo Montero

Wenige Tage nach der Live-Premiere am 25. Juli im Digitalen Fundus des Staatstheaters Nürnberg zu sehen: Der Ballett-Film zur neuesten Choreografie "Blitiri" des Nürnberger Ballettdirektors Goyo Montero.

Nürnberg, 27/07/2021

Von Susanne Roth

Das wäre auch jammerschade gewesen, wenn „Blitiri“ – übrigens in jeder Hinsicht farbig - irgendwann im Körpergedächtnis der Tanzenden oder gar in den Gehirnwindungen der Zuschauer*innen verblasst wäre. Gut, dass das Staatstheater Nürnberg auf die kürzlich bei der Premiere „Goecke/Godani/Montero“ gefeierte Aufführung vor Ort noch eine visuelle und akustische Schippe obendrauf gelegt hat. Für Fans des Ballett (spätestens nach diesem Film auch Fans des Staatstheaters) ist der seit wenigen Stunden sich auf der Internetseite des Staatstheaters online befindende Film über das jüngste Werk des Nürnberger Ballettdirektors und Chefchoreografen Goyo Montero ein „Must Have“. Etwas für das Film-Archiv. Etwas, das man hervorholen kann, droht die Laune zu sinken. Es ist zwar nicht alles eitel Sonnenschein in der gut 20-minütigen Choreografie, aber die Lebenslust, die pure Freude daran und natürlich auch am Tanz, schlängelt sich unübersehbar als roter Faden durch ein explosives Tanz-Erlebnis.

„Blitiri“ - das mittelalterliche Wort ohne Sinn - wie sollte man das auch erklären wollen oder gar müssen. Es muss nicht alles bis zur Unkenntlichkeit analysiert werden. Und so stellt sich auch der gleichnamige Ballett-Film dar. Es werden keine einleitenden (oder ableitenden) Worte gemacht. Titel eingeblendet und „zack“ geht es los. Anschnallen bitte.

Das gilt auch für diejenigen, die bereits das Vergnügen hatten, im Rahmen der durch drei Choreografen denn auch dreigeteilten Aufführung im Staatstheater Monteros „Blitiri“ live beizuwohnen. Dieser illustre Kreis wird es gern auch ein zweites Mal am Monitor tun. Denn: Daran kann man sich nicht sattsehen. Allein schon deshalb nicht, weil man in den ersten Sekunden fast geblendet wird von der sich in einen bunten (Lack-)Regenbogen verwandelten Kompanie. Rot, gelb, grün, blau - dazu noch ein aber nur auf den ersten Blick wirkendes „Durcheinander“ von Beinen, Armen, Körpern. Alles natürlich so gewollt. Wer den für seine skurrilen Einfälle bekannten Wolfgang Amadeus Mozart - mit seinem vom Pianisten Friedrich Gulda interpretierten Stück „unser dummer pöbel meint“ - auf die Bühne lässt, muss mit so etwas rechnen. Da tanzt der Schalk automatisch mit. Die Musik, sie spielt zwar die erste Geige, aber auch nur deshalb, weil das Ensemble ihr bewegt bewegend die Krone aufsetzt. Und nicht nur Mozarts frechen Tönen: Eine wunderbare Auswahl hat Goyo Montero auch mit dem von Bobby McFerrins interpretierten Beatles-Song „Blackbird“ und mit der explosiven Punk-Rock-Ballade „Rid of Me“ von PJ Harvey getroffen. Moll, Dur, Gitarrenriffs, wehklagende Töne, softe akustische Schaumbäder: Das muss man erst einmal umsetzen (können) in Bewegung.

Und das tut Goyo Montero mit einem Augenzwinkern, etwas Ernst und einfach jeder Menge Freude an der puren Bewegung zur Musik. Genauer: seine Tänzerinnen und Tänzer tun es. Sie lassen sich auf Geheiß des zeitgenössischen Choreografen - übrigens seit 14 Jahren eine gefeierte Größe in Nürnberg (und darüber hinaus) - gehen. Bewusst gehen. Gekonnt gehen. Elastisch, biegbar lassen sie sich gehen. Oft in ihrer eigenen Bewegungswelt und doch miteinander agierend, immer wieder auch durch wellenartige „Erschütterungen“ miteinander verbunden wie fallende Dominosteine. Ironie, auch das und bitte so viel wie möglich. Dachte sich wohl Goyo Montero. Die an eine dunkle Kaviar-Fisch-Eier-Wolke wabernde Masse über den Köpfen des Ensembles stellen sich als Luftballone heraus. Und Montero ist da nicht viel besser wie Mozart, hat seinen eigenen Schabernack im Nacken sitzen gehabt, als er die Musik mit „sprechenden“ Luftballons anreichert. Die Ballons quietschen ungeduldig, ziepen zirpend, zerren nervenzehrend lang gezogene, ungezogene hohe Töne. Und fallen schließlich über die Tänzerinnen und Tänzer her, entladen sich wie eine Gewitterwolke.

Im letzten Teil der Choreografie Blitiri wird vor allem deutlich, was den Ballettdirektor und auf jeden Fall auch seine Kompanie im Lockdown beschäftigte. Ballett ohne Publikum. Man kann nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Wofür rackert man sich ab? Fürs Publikum. Es tut weh. Es macht Mühe. Und es macht Freude. Man liebt sich, aber nicht die Abhängigkeit und ist es doch am Ende. Ballett ohne Publikum? Wie traurig. Aber nicht unmöglich – wie der Film zeigt. Im letzten Teil seiner neuesten Choreografie nun wird deutlich, was Goyo Montero mit Nähe und Distanz (zum Publikum) meint. Was Liebe, Hass, Hass-Liebe ist: Ballons dienen als Puffer, als Schutz, als Angriffsfläche, sie trennen, verbinden, sind im Weg oder werden zum Schmusetier. Und manchmal beenden sie mit einem lauten Knall – zwischen die Fronten geratend - ihr Leben.

Mit „Blitiri“ ist Goyo Montero der Tanz auf dem Vulkan gelungen, genauer gesagt: Er hat die Balance zwischen realer Aufführung und Online-Darbietung mit pirouettenhafter Leichtigkeit gemeistert. Wobei man auch erwähnen muss, dass „Blitiri“ anfangs aufgrund der unsicheren Corona-Lage nur digital geplant war. Man muss es aber noch genauer ausdrücken: Montero hat ein Werk geschaffen, das sich gut, sehr gut sogar durch seine plakative „Aufdringlichkeit“ eignet fürs Netz. Da zählen „Eye-Catcher“, da muss es knallen, um zu ersetzen, was genau genommen unersetzlich ist: die Live-Aufführung in Präsenz.

Und dafür hat er genau den richtigen Mann ausgesucht, der den Ballettdirektor offensichtlich so gut kennt wie die eigene Westentasche: Der Videograf Stefan Kleeberger ist seit zehn Jahren Kooperationspartner des Hauses. Wie viele Schnitte, wie viel Arbeit in seinem Video steckt, kann man nur erahnen. Einer, der sein Fach versteht hat es nicht nötig, durch Spezialeffekte aufzufallen, im Gegenteil: Stefan Kleeberger spielt Mäuschen. Besser: Er ist ein ganzes Mäuserudel, das unbemerkt dahin huscht, wo der Genuss zu finden ist. Wenn es nötig ist, synchrone Bewegungen der Kompanie darzustellen, wählt er eine Perspektive, die genau das unterstreicht. Fallen die Tänzerinnen und Tänzer wie bunte Smarties aus der Tüte zeigt Kleeberger das aus der Vogel-Perspektive. Versucht ein Paar verzweifelt, sich an den sie trennenden Luftballons vorbeizuarbeiten, ist die Kamera nah an den verzerrten Gesichtern.

Manchmal auch wirken sie in dem dunklen Bühnenraum wie ein buntes, äußerst grazil und ästhetisch bewegendes Insekt, weil der Videograf ganz viel schwarzen Raum lässt. Keine Frage: Die Staatstheater-Luft (wenn auch derzeit durch die Maske) zu schnuppern, den Kristalllüster über sich blinken zu sehen, die Vorfreude mit anderen Gästen zu teilen und die Tänzer*innen so nah zu wissen, dass man sie fast spüren kann ist ein besonderer Genuss. Der Film aber hat unbestreitbar auch ein paar Vorteile: So nah kommt man selbst in der ersten Reihe nicht, dass man den Tänzerinnen und Tänzern in die Augen schauen, ihre Schweißperlen sehen kann, ihre die Inhalte des Tanzes unterstreichende Mimik. Stefan Kleeberger rückt ihnen auf die Pelle ohne sie bei ihrer „Freude an der Bewegung zu Tanz“ zu stören oder zu beeinträchtigen. Diese Einblicke sind phänomenal. Gänsehautverdächtig.

Bereits im Winter 2020 hat Goyo Montero in Kooperation mit BR-Klassik und Regisseur Hans Hadulla mit „Über den Wolf - Ein Tanzstück von Goyo Montero (UA)“ einen ersten Ballettfilm konzipiert, für dessen Erfolg die hohen Zugriffszahlen im digitalen Fundus des Staatstheaters sprechen. Mit „Blitiri“ führt er konsequent diese aus der Not heraus geborene, sich aber als zukunftsträchtig und als zeitgemäß erweisende Art der Präsentation fort. Und eine wunderbare Möglichkeit, die Zeit bis zum Saisonstart 2021/22 zu verkürzen.

 

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