„Undine - Ein Traumballett“ von Karl-Alfred Schreiner

„Undine - Ein Traumballett“ von Karl-Alfred Schreiner

Mahler und Me(e)r

Uraufführung von „Undine – Ein Traumballett“ beim Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Mit über einem halben Jahr Verspätung hob sich am Mittwochabend der Vorhang zu Karl Alfred Schreiners neuster Kreation „Undine – Ein Traumballett“ zu Mahlers legendärer „Zehnten“ – ein Erfolg!

München, 23/05/2021

Verwunschene Schwäne, Nixen, Sylphiden – sie alle sind Schwestern im Geiste, unerreichbare und umso begehrenswertere „Objekte“ männlicher Betrachter aus Fleisch und Blut. Zugleich treibt sie nichts stärker an als die Sehnsucht nach irdischem Sein und dem Fühlen eines warmen Herzschlags. Doch die gelebte wechselseitige Liebe und der Versuch des Herübergleitens in die je andere Welt sind zum Scheitern verurteilt – als unabwendbares Ziel lockt der Tod. All diese Elemente zusammen erheben die weiblichen Geister- und Fabelwesen zu Symbolfiguren ihrer Zeit – der Romantik. In dieser brach der Erfolg des jahrhundertealten Mythos der Meerjungfrau endgültig Bahn und fand seit Friedrich de la Motte Fouqués „Undine“-Erzählung 1811 zu einer Vielzahl an Opern- und Tanzschöpfungen: Etwa 1851 Jules Perrots-Version für Tanzikone Fanny Cerrito, oder ein Jahrhundert später 1958 die choreografische Hommage Frederic Ashtons für Muse Margot Fonteyn bzw. John Neumeier, der sich 1994 der „Undine“-Thematik – ebenso wie Ashton – zur Komposition Hans Werner Henzes annimmt. Für ihre Uraufführung beim Gärtnerplatztheater griffen Ballettdirektor Karl Alfred Schreiner und musikalischer Leiter Michael Brandstätter auf ein anderes musikalisches Werk zurück: die 10. Sinfonie Gustav Mahlers für Kammerorchester von Michelle Castelletti – ein Glücksgriff.

Wie gut sich Mahler und Tanz vertragen, steht seit Kenneth MacMillans kongenialer Tanzschöpfung „Lied von der Erde“ 1965 außer Frage. Die aktuelle Verbindung verspricht thematisch eine ähnlich ideale Symbiose: Mahler und das Meer. Nicht von ungefähr ging 1911 – dem Sterbejahr Mahlers – eine Fotografie um die Welt, welche den Komponisten bei seiner letzten Schiffsreise nach Europa zeigt. Dieses Szenario fand Eingang in Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ 1912, in welcher der Autor seinem Romanhelden nicht nur den Vornamen Mahlers, sondern auch dessen mentales Antlitz verleiht und ihn in der Stadt der Lagunen – der versinkenden Stadt am Meer – sterben lässt. Wesensverwandt ist Mahler auch mit Undine selbst: Beide lassen Altes zurück, um zu „neuen Ufern“ aufzubrechen. Während Mahler seine Heimat Wien gegen die neue, New York, eintauscht, in der er nie vollends zu Hause sein wird; wechselt Undine in ihrer neuen Körperlichkeit ihr altes Sein gegen „fremde Haut“. Vor allem aber gilt Mahler epochal als Wegbereiter, indem er, Spätromantiker, das Vergangene hinter sich lässt und zu einem Initialzünder musikalischer Moderne wird – er komponiert Brennstoff. Und auch dies macht sie – den reellen Komponisten und die Kunstfigur Undine – zu Gleichgesinnten: Ihr absolutes Brennen für etwas – und die Bereitschaft daran zu verbrennen, sei es für die Kunst, oder sei es für die Liebe. Nicht umsonst schrieb Mahler sein letztes Werk, die 10. Sinfonie, seine „Unvollendete“, 1911 – 100 Jahre später als Fouqué seine „Undine“ – in der Zeit seiner größten Ehekrise als Liebestestament für Alma Mahler. Die nagende Angst vor Liebes- und Lebensverlust klingt in jeder musikalischen Sequenz mit – und Schreiner greift diese choreografisch fein nuanciert auf.

Wer sich solch bildgewaltiger Musik für einen Tanzabend bedient, benötigt visuell kaum Anderes: Mahlers Komposition erschafft Räume und Welten – Seelenräume. Folgerichtig sind Ausstattung, aber auch die von Schreiner bewegungssprachlich nacherzählte Geschichte reduziert und folgen Mahlers emotionaler Klangwelt: Lediglich durch vom Schnürboden aus bewegten Plexiglaswänden (Heiko Pfützner) wird der nackte Bühnenraum belebt. Diese suggerieren nicht nur das Bild eines überdimensionalen Aquariums – getaucht in blaues bzw. düster grauschwarzes Licht (Peter Hörtner) –sondern erlauben verschiedene Assoziationsräume: Zuweilen erwecken sie den Eindruck eines gläsernen Labyrinths oder auch ein das Dargestellte mannigfach reflektierendes Spiegelkabinett. So ideal schmiegt sich die Plexiglas-Ästhetik an die Original-Thematik an, die ewige Sehnsucht des sich Nahekommens bzw. die Unmöglichkeit davon, dass man hierüber deren Ursprungszweck vergisst: Corona-konformer Tanz als Garant – körperliche Nähe wird suggeriert, tatsächliche Trennung bleibt. Die Schlichtheit des Bühnenbilds korrespondiert mit einem Potpourri an Kostümen (Caroline Czaloun-Moore), welche eine ganze Bademodenkollektion für die androgyne Unterwasserwelt bereithält: futuristisch anmutende Neopren-Badeanzüge samt meterlanger Plastikschleppen oder ein adrettes 20er Jahre Swimsuit für die nun menschliche Undine. Einen Kontrast hierzu bilden legere Hosen- und Hemdensembles in Erdtönen für die männlichen bzw. duftig grüne, mädchenhaft anmutende Kleider für die weiblichen Tänzer*innen samt Gretchen-Flechtfrisuren – die Welt der Menschen an Land.

Ohne als Handlungsballett deklariert werden zu wollen, ein – symphonisches – Traumballett ist es, wird die Geschichte im Kern deutlich: Undine, die zwischen zwei Welten steht, folgt ihrer Berufung und gelangt in die ihr fremde – verbotene – und verlockende Seinswelt hinüber: Sie wird zur Frau und muss die Fortbewegung auf zwei ungelenken Beinen erst erlernen. Das ihr im Wasser natürlich anhaftende Selbstbewusstsein fehlt, sie fühlt sich unverstanden; dennoch versucht sie sich die freien Bewegungen der Mädchen zu eigen zu machen. Werden, wie sie. Lieben, wie sie: Frauen der Luft, Frauen des Lichts. Undine (Amelie Lambrichts) verliebt sich in den „Mann ihrer unerfüllten Träume“ (David Valencia).

Ein erstes Zusammentreffen der beiden einander diametral gegenüberliegenden Welten gestaltet Schreiner mit Einführung Undines selbst. Eine Ewigkeit verharrt diese in der Bühnenmitte – der Rücken dem Publikum zugewandt – in ihrer sie als Meeresnixe auszeichnenden Körperhaltung: einer halben Liegeposition, in welcher die Beine zur Seite gestreckt sind und mit ihren abgewinkelten en dedans-Füßen Schwanzflossen suggerieren. Charakteristisch ist auch die eigene Bewegungssprache, welche Schreiner den Nixen verleiht: An kurz vorm Schlüpfen befindliche Raupen erinnern sie, deren Kokon zu eng geworden ist und deren Oberkörper gemächlich von der einen auf die andere Seite geschwappt wird – Beine fehlen. Auch Undine ist eine von ihnen, und ist es nicht – gefesselt ist sie von den jungen Männern und schaut ihnen voll Erstaunen beim sich gegenseitigen Jagen und Necken zu. Ein visuell ansprechender sowie musikalisch und bewegungstechnisch exakter Männer-Kanon entsteht, wobei die Tänzer ihren je eigenen Platz im „gläsernen“ Käfig nicht verlassen, was das voyeuristische Moment Undines unterstreicht. Immer wieder springt Schreiner zwischen den Welten mit shakespearehafter Laune und verführt seine Zuschauer*innen zu Verwechslungen der einzelnen Protagonisten – vielfach erscheint Undine in all ihren Facetten in anderen Tänzerinnen widergespielt. Auch andere Liebeskonstellationen als zwischen Undine und dem „Mann ihrer unerfüllten Träume“, den sie später trifft, wären denkbar, denn sie sind nur zwei Fallbeispiele, Vertreter der beiden sich ewig anziehenden Gegenwelten – doch deren Schicksal ist das einzige, das hier im wahrsten Sinne des Wortes „berührt“.

Schreiner, der sich das Dogma auferlegt hatte, Körperkontakte auszuklammern, verlässt dieses nur bei den Pas de deux seiner Hauptprotagonist*innen. Als diese im Stück auch physisch zueinanderfinden, besticht deren Liebesreigen als Variation über Umarmungen, Hebungen, eines Sich-Haltens, Nicht-Voneinander-Lassen-Könnens und berührt umso mehr, als er die einzigen Momente von Nähe vermittelt. Doch selbst in diesen stellt sich kein Innehalten ein, der stete Bewegungsfluss macht deutlich, dass diese Vereinigung kein Ruhe- und Schlusspunkt ist: Das ureigene Merkmal von Wasser ist Veränderung. Und so stellt auch dieser Liebesakt mit seinen durchaus verzweifelt mit sich bzw. dem Anderen ringenden und sich ineinander verschraubenden, verkeilenden Drehmomenten nur einen einzigen Augenblick liebender Vereinigung zweier Wesen dar, deren Herzen füreinander schlagen.

Kunstvoll sensibel gestaltet Lambrichts ihre komplexe Rolle, die so viele Seinsstadien verläuft und sich vom sehnsuchtsvollen Nixenmädchen zur liebenden Frau mausert, die bereit ist, für ihre Liebe und ihren freien Willen – höchstes menschliches Gut – einzustehen. Die in letzter Instanz aber keinen anderen Weg gehen kann, als ihren Geliebten mit zu sich ins offene Meer und damit den Tod zu holen. Undine selbst ist zurück bei ihren vermeintlich Gleichgesinnten. Dort, als dem einzigen Element, in dem sie überleben, existieren kann. Doch angekommen bei sich selbst, ist sie an Land. Zurück bleibt eine veränderte, nun starke Frau, die nicht nur die Sehnsucht, sondern ihre Erfüllung kennt – das war es wert. Das Stück, das musikalisch mit einer tiefklagenden Stimme sehnsüchtiger Melancholie beginnt, endet mit der Einsamkeit. Wie symbolträchtig dieses Stück über Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, der Unmöglichkeit des Zusammenkommens sowie des Getrenntseins in Isolation in dieser Zeit ist, scheint unverkennbar. Dieses Stück hat mit uns zu tun, mit uns selbst in dieser Zeit.

Ein emotional starkes Kammerballett ist es geworden, ein Stück Weltliteratur heruntergebrochen auf das Wesentliche: Der Sehnsucht nach dem Sein. Dieses gestaltet Schreiner zur Mahler‘schen Sinfonie im Kammerorchester-Format für seine 17 Tänzer*innen zum intimen Tanzabend. Einer, der berührt und die Stärke des Gärtnerplatz-Ensembles im zeitgenössischen Tanz sowie in ihrer darstellerischen Wandlungsfähigkeit und Spielfreude abermals unter Beweis stellt. Das Publikum von rund 250 Zuschauer*innen würdigt die schöne Gesamtleistung in tänzerischer, aber vor allem auch musikalischer Hinsicht unter der Leitung Brandstätters mit seinem wunderbar feingeführten Orchester als Hauptprotagonist*innen des Abends mit kräftigem Schlussapplaus. Auf hoffentlich bald und me(e)r.

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