Die Schwäne leben

„The Dying Swans Project“ von Eric Gauthier als Video-Serie bei YouTube und 3sat

Weil seine Kompanie Lockdown-bedingt nicht auftreten konnte, stampfte Eric Gauthier im Januar kurzerhand ein Online-Projekt aus dem Boden. 16 Clips, die zeigen, wie lebendig der Tanz auch in Corona-Zeiten ist.

Stuttgart, 18/04/2021

Es sind die kleinen Wahrnehmungen, aus denen oftmals etwas Großes erwächst: Als er im Januar seinen 16 Tänzer*innen sagen musste, dass sie wegen des Lockdowns weiterhin nicht würden auftreten können, ließen alle verständlicherweise die Köpfe hängen. „Die sehen alle aus wie sterbende Schwäne“, habe er gedacht, erzählt Eric Gauthier auf 3sat, und schon war eine Idee geboren: „The Dying Swans Project“. Wie wäre es, wenn 16 Choreograf*innen (8 Frauen, 8 Männer) zusammen mit 16 Video-Künstler*innen und 16 Musiker*innen jeweils ca. vierminütige Clips für die 16 Tänzer*innen von „Gauthier Dance“ produzieren würden, 16 Soli für 16 sterbende Schwäne? Es wäre großartig! Und so dauerte es gerade mal eine Woche, bis Eric Gauthier sowohl Sponsoren (Daimler Benz) und Koproduzenten gefunden hatte (3sat, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Ludwigsburger Schlossfestspiele, Holland Dance Festival, Festival Bolzano Danza/Tanz Bozen, Bürgerzentrum Waiblingen) als auch Künstler*innen aus aller Welt für Choreografie und Musik – aus der freien Szene ebenso wie weltbekannte Kreative. Wer in weiter Ferne lebte, wurde kurzerhand per Video-Stream in die Stuttgarter Probenräume geschaltet – und siehe da, auch das funktionierte. Die Hälfte der Produktion wurde live im Studio erstellt, die andere Hälfte über Zoom. Jetzt ist „The Dying Swans Project“ online gegangen: im YouTube-Kanal des Stuttgarter Theaterhauses und ebenso zwei Jahre lang (bis 15. April 2023) in der Mediathek von 3sat.

Die einzige Vorgabe Gauthiers an alle war, dann doch lieber „nichts mit Sterben“ zu machen, sondern „hoffnungsvolle Schwäne“ zu kreieren oder „hungernde Schwäne“, denen ihr Futter fehlt, ihr See, wie den Tänzer*innen die Bühne fehlt, der Auftritt, die Präsenz des Publikums. Herausgekommen sind 16 höchst unterschiedliche Soli, die sowohl einzeln wie auch in ihrer Komplexität und Vielfalt ein Ganzes ergeben. Sie sind ein Abbild der Vielschichtigkeit der Tanzszene, sie spiegeln die Einsamkeit und die Sehnsucht der Tänzer*innen in Zeiten des Lockdowns, aber ebenso ihren Lebenswillen, ihre Freude, ihre Unbeugsamkeit. Ob das „Covid Cage“ ist von Eric Gauthier selbst, der einen Tänzer im ‚Gefängnis‛ seiner Wohnung zeigt, aus dem es nur ein Entrinnen gibt: die Impfung (es ist die einzige politische Botschaft, die hier vermittelt wird, und sie erscheint im Gesamtkontext eher deplatziert). Oder „La Signa“ von Mauro Bigonzetti – ein Schwan in einem weißen Plastiktrog, schaumgeboren und schaumverschlungen, mit raffinierten Schattenspielen. Oder „Emovere“ von Itzik Galili – zwei Beine, die sich aus einem Tutu schälen wie aus einem Blütenkelch, sie zappeln, verschränken und spreizen sich, scheinen körperlos zu schweben, um dann doch zum Schluss storchengleich von dannen zu stelzen. Oder „Taleb‛s Theory“ von Anita Hanke – ein Tänzer in einem Käfig von Leuchtstäben. Oder Dominique Dumais‛ „Fallen Wings“ – ein Tänzer in einer Betonruine im Freien zwischen kahlen Bäumen, mit einem raffinierten Timing, wenn die Sonne so gerade über dem Horizont schwebt. Oder Adonis Foniadakis‛ „AELLO“ – eine Frau, im Nebel gefangen, die sich zu befreien versucht und doch vom Nebel verschluckt wird. Oder Bridget Breiners „Flatternd“ – eine Frau in Spitzenschuhen und schwarzem Fransentrikot bewegt sich in einem großen Saal mit hohen hellen Fenstern, als sei‛s eine Kathedrale. Oder Virginie Brunelles „Off White“ – eine Frau im weißen Anzug, die sich auf einer Fußgängerbrücke durch die Nacht schleppt. Oder Elisabeth Schillings „Oloris Oram“ – die Hand eines Mannes mit schwarzfedrig geschminkter Augenpartie, in orangegelbes, vernebeltes Licht getaucht, bewegt sich mit dem Mann in seinem asymmetrischen schwarzen Zipfeloberteil, um dann doch sich verkrampfend am Boden zu bleiben. Oder Constanza Macras‛ „all tomorrow parties“ – eine Tänzerin liegt in einem Säuleneingang mit Blick in einen französischen Park mit in Form geschnittenen Riesenbüschen am Boden, es ist ein sonniger Tag; sie erwacht und tänzelt in ihrem knielangen Glitzerkleid mit blauer Sportjacke und Straßenschuhen zu einem Springbrunnen, stützt den Fuß am Rand ab und zündet sich eine Zigarette an. Oder Edward Clugs „drops“ – zwei Füße, vor denen ein Eimer Wasser ausgekippt wird, ein Mann in weißer Unterhose stellt sich in diesen schwarzen Eimer, der in einem viereckigen schwarzen Bassin steht und bleibt dort wie festgewurzelt, während sich nur der Körper darüber bewegt. Oder Smadar Goshens „Kamma“ – ein weiß gepuderter Mann im Silberslip, nur die Augenregion ist schwarz, tanzt unter einem quer durch den Raum gespannten weißen Segel vor einer weißen Fensterfront und einem schwarzen Vorhang, der den Hintergrund begrenzt. Oder Nicki Lisztas „Oblong Blur“ – eine Frau in Jeans und Straßenschuhen steht in einem Bachlauf, ihre rote Jacke hat viel zu lange Ärmel, die im Wasser treiben; Schnitt; die Frau tanzt auf den Gleisen der Industriebahn am Stuttgarter Neckarhafen, bis sie zum Schluss doch wieder mit ihren zu langen Ärmeln über das Gras kreiselt und von oben aussieht wie ein zu Boden gefallenes Windrad. Oder Guillaume Hulots „Swanny side of life“ – ein Mann im schwarzen Anzug und weißem Hemd hüpft und läuft und spreizt sich im flackernden Licht durch ein kahles Treppenhaus, wechselt ins Freie, trägt dann ein weites schwarzes Kleid und schwebt über und durch trockenes Laub, um dort schließlich liegenzubleiben. Oder Kevin O’Days „We were many“ – ein Mann in schwarzer Hose mit Weste und weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln tänzelt über eine Bühne, auf der verteilt viele Hüte liegen; tanzend sammelt er die Hüte ein und setzt sie sich übereinander gestapelt auf den Kopf, zum Schluss fällt ein Hut herunter und bleibt. Oder Kinsun Chans „Silent Swan“ – eine Frau in langen schwarzen Hosen und schwarz abgeklebter Brust bewegt sich in komplett weißem Raum auf weißen Stühlen, um zum Schluss in all dem Weiß zu Boden zu sinken.

Es wird viel mit Schwarz-Weiß-Kontrasten gearbeitet in diesen Clips, und schon allein das ist ein Zeichen, in welchen Zeiten wir uns bewegen. Diese 16 Clips sind aber auch ein lebendiger Ausdruck davon, dass die Kunst lebt – dass der Tanz lebt, und dass er selbst unter widrigsten Bedingungen kreativ weiterentwickelt werden kann. Wie auch dieses Projekt – denn Eric Gauthier wäre nicht Eric Gauthier, wenn es nicht noch eine Bühnenfassung mit acht dieser Kreationen geben würde, die dann irgendwann in hoffentlich naher Zukunft live gezeigt werden kann.

 

 

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