„Gymnastik. Stretching out to past and future dances“ von Gintersdorfer/Klaßen und Ballet of Difference

„Gymnastik. Stretching out to past and future dances“ von Gintersdorfer/Klaßen und Ballet of Difference

Aus dem Sportteil

„Gymnastik. Stretching out to past and future dances“ von Gintersdorfer/Klaßen und Ballet of Difference

In Köln entdecken Gintersdorfer/Klaßen und das Ballet of Difference die 1920er Jahre neu und spüren dabei zwischen rhythmischer Sportgymnastik und Ausdruckstanz viel Heutiges auf.

Köln, 01/03/2021

Rhythmische Sportgymnastik ist zu Recht nicht gerade ein Segment, das in der Tanzberichterstattung einen breiten Raum einnimmt. Es gehört in den Sportteil. Und dennoch werden wir uns hier diesem ganz speziellen Teil des olympischen Panoramas zuwenden. Natürlich mit einer künstlerischen Perspektive und die liefern in diesem Fall das Produktionskollektiv Gintersdorfer/Klaßen unter der Leitung von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen zusammen mit dem Ballet of Difference von Richard Siegal. In einer Online-Premiere am Schauspiel Köln präsentierten sie die rhythmische Sportgymnastik als Ausgangs- und Referenzpunkt nehmend: „Gymnastik. Stretching out to past and future dances“.

Die sechs Tänzerinnen und Tänzer des Ballet of Difference werden unterstützt von Ordinateur und Alaingo, sowie dem Musiker Hans Unstern – alle drei aus dem klassischen Ginterdorfer/Klaßen Umkreis. 1 Stunde und 50 Minuten lang dauert ihre gemeinsame Spurensuche zur Geschichte des modernen Tanzes in Deutschland (und Europa), beginnend in den Reformvorstellungen von Émile Jaques-Dalcroze. Dieser hat in Hellerau in den 1920er Jahren bekanntermaßen eine der Urformen der heutigen Sportgymnastik aus der Taufe gehoben. Das transkulturelle Ensemble wirft angesichts dieses kulturgeschichtlichen Gewichts gleich zu Anfang eine klare Ansage in den Raum: „We present our version of rhythmic gymnastic, different from TV.“ Und tatsächlich entpuppt sich Delacrozes Anspruch an die Einheit von Geist und Körper als das ziemliche Gegenteil vom olympischen Leitungsprinzip: „We don‘t care what it looks like, we show our inner feeling.“ Kein Re-Enactment dieser alten Formen, sondern auf deren Basis etwas Neues schaffen, das ist der Anspruch des Abends. Dies gelingt, die alten Formmuster werden erkennbar aufgegriffen (was hier und da durch Überblendungen von historischem Filmmaterial belegt wird), aber diese werden durch die Einflüsse der verschiedenen Tanzstile und -erfahrungen transformiert, sowohl in (bewusst) leicht unfertig wirkenden Gruppenarbeiten oder Einzeletüden. Zunächst treten die Performer*innen in blauen und pinken Trikots auf und sind ausgestattet mit Stoffwürsten, die mit Erbsen gefüllt sind und in Schlangenhautoptik daher kommen. Ein Muster, das sich auch in anderen Kostümen zeigen wird, wenn die Tänzer*innen etwa in große steife nach oben und unten sich leicht zylindrig öffnende Säcke schlüpfen oder am Ende in einer Art Pyjama auftreten, bei denen mitunter Arme und Beine miteinander vernäht sind. Ein Highlight sind zwei Anzüge mit hunderten von kleinen Glöckchen. Ein anderes Highlight ist die musikalische Gestaltung durch Hans Unstern, der mit einer neu gebauten Harfe, anderen experimentellen Saiteninstrumenten und seiner eigenen Stimme diese Spurensuche nicht nur musikalisch untermalt, sondern maßgeblich die nicht nicht unerhebliche Dynamik des Abends bestimmt. Running Gag: Immer wenn bei Solonummern eine der Stoffwürste zu Boden fällt, wird wettkampfmäßig „Fehler“ gerufen, was allerdings die Tanzenden mal so gar nicht interessiert.

Natürlich bleibt der Abend nicht in Hellerau stehen, sondern nimmt die vor allem weiblichen Pionier*innen des Tanzes der goldenen 20er in den Blick, deren Traditionen dann schon wenige Jahre später wieder abbrechen: Valeska Gert bekommt ihren Raum, ebenso der Wirbelwind Anita Berber und Josephine Baker. An allen interessiert hier vor allem deren Überschreiten von gesellschaftlichen Normen und Grenzen. „She pushed what was accepted“, heißt es an einer Stelle über Gert. An dieser Stelle wird auch der Tänzer Harold Kreuzberg interessant, der trotz seines Schwulseins auch unter den Nazis weiterhin Karriere machen konnte, weil er im Tanz das herrschende Männlichkeitsbild darstellte und bediente.

Das ermöglicht einen perfekten Sprung ins Heute. Da ist Long Zou, der sich wundert, dass sein Tanz als weiblich wahrgenommen wird, was ihn, der tatsächlich ostentativ androgyn herüberkommt, wundert. Schützenhilfe bekommt er von Ordinateur, der feststellt, dass in der Elfenbeinkünste vor allem die Qualität der Bewegung bewertet werde, und nicht ihre Männlich- oder Weiblichkeit. Zudem fragt er sich, warum es unbedingt rassistisch sei, wenn er den klar rassistisch gemeinten Bananentanz von Josephine Baker (die in Paris als Afrikanerin beworben wurde, obwohl sie aus New York stammte) oder Gorilla-Moves auf der Bühne imitiere, wenn er Lust darauf hätte. Sie seien immerhin nur ein winziger Ausschnitt des Bewegungsrepertoires, aber offenbar problematisch: „Perhaps I‘m more intellectual than the people behind the camera!“ Tanz solle jenseits solcher politischen Binaritäten betrachtet werden als Ausdruck von Gefühlen und als intimer Vorgang. Damit ist der Abend mitten im Jetzt angekommen, in den Untiefen der kulturellen Zuschreibungen, transkultureller Konfrontationen und den Diskussionen um Identitätspolitik. Und es bleibt die Frage: Was haben wir in den letzten 100 Jahren eigentlich gelernt?

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern