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NIE UM EINE ANTWORT VERLEGEN GEWESEN
Nachrufe auf Birgit Brux und Diane Marstboom
Es sind nicht immer nur die Großen, die im Gedächtnis haften. Manchmal bleibt einem auch ein scheinbar beiläufiger Auftritt einer Tänzerin, eines Tänzers in Erinnerung. In Berlin beispielsweise Birgit Brux in der „Bajadere“ von Vladimir Malakhov wie in der rekonstruierten „La Bayadère“ Alexei Ratmanskys: als Aya die Ergebenheit in Person, als flüchtige Erscheinung dennoch überaus präsent.
Zu möglichen Zeiten sah man sie auch auf Berlins Bühnen als Berthe, Giselles Mutter, und als Amme in Crankos „Onegin“: beides Rollen, die schon deshalb nach Persönlichkeit verlangten, weil sie sich neben den mehr tänzerisch angelegten Hauptpartien behaupten mussten. Birgit Brux erfüllte sie auf ihre geerdete Art und ließ dennoch den Spitzentanz ahnen, von dem sie sich selbst zugunsten des Education-Programms des Staatsballetts vor längerer Zeit verabschiedet hatte. In Dornreichenbach (Sachsen) geboren, trat sie schon während ihrer Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin im „Schwanensee“ der Deutschen Staatsoper auf, der sie seit 1980 erst als Ensemblemitglied, ab 1985 als Gruppentänzerin mit Solo-Verpflichtung angehörte. Die Liste ihrer Rollen ist lang und reicht vom „Domino“ Emöke Pöstenyis über Béjarts „Le Concours“ und den „Carmina Burana“ eines Youri Vàmos bis hin zum klassischen Repertoire à la Balanchine, Bart, Cranko und Nurejew. Unvergessen ein Auftritt bei einer Silvester-Gala des Stuttgarter Balletts: Da powerte sie sich zusammen mit ihren Kolleginnen aus Ost-Berlin so durch die „Love Songs“ von William Forsythe, dass den Männern schon mal Hören und Sehen vergehen konnte.
Ganz anders ihre Aufgabe beim Education-Programm, das sie seit 2006 mitaufgebaut hatte. Im Rahmen von „Tanz ist KLASSE e.V.“ war sie bestrebt, Augen und Ohren junger Zuschauer*innen zu öffnen für eine Kunst, der ihre ganze Liebe galt. Ihr heiteres Naturell kam ihr dabei zugute. Auch ihre Standfestigkeit, wenn wieder mal eins der Kinder eine Frage stellte, bei der andere womöglich aus den Pantinen kippen. Schlagfertig wusste Birgit Brux auf alles eine Antwort - selbst auf die Frage eines Jungen, warum sich nicht auch verstorbene Männer nach dem Vorbild der Wilis solidarisieren.
Auch Diane Marstboom wäre vermutlich nicht um eine Antwort verlegen gewesen. In eigenen Stücken beschäftigte sie sich viel mit der kindlichen Psyche, und als Raupe in der „Alice im Iconland“ von Nina Kurzeja hätte sie sich zweifellos in eine Aussage versponnen, die dem Rahmen gerecht gewesen wäre. „Madame Marstboom“, wie sie in der Stuttgarter Szene genannt wurde, war für alles zu haben, selbst für kindgerechte Komik, und mehr als einmal wechselte sie ihre Profession. Von Haus aus war sie Tänzerin, ausgebildet an der Koninklijke Balletschool Antwerpen unter der legendären Jeanne Brabants. Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden, als Allround-Artist ihr Können in Musicals beweisen. Dass sie 1973 in Stuttgart hängen blieb, war dem Zufall geschuldet, einem Engagement als Sängerin einer belgischen Showband, letztlich wohl auch der Liebe.
Nach einer Mutterschaftspause gründete sie in Stuttgart eine Ballettschule, unterrichtete an Schauspielschulen Bewegungslehre nach Rudolf von Laban und konzentrierte sich seit 1995 auf eine Karriere als freie Schauspielerin, die sie zunächst vor allem ans „kommunale kontakt teater“ führte. 2001 gründete sie „die kleine bühne“, die sie auch leitete - ohne deswegen allerdings der „Szene“ gänzlich verloren zu gehen. Tänzerisch gefordert war sie erstmals wieder von Nicki Liszta, die für sie „Avatar“ choreografierte. Ab 2010 entwickelte sich eine enge Partnerschaft mit Nina Kurzeja, angefangen von der „Zaubernacht“ nach Musik von Kurt Weill über „Alice im Iconland“ bis hin zum getanzten Parcours „Ida Herion – Trace Back Session“, einer aufsehenerregenden Spurensuche im Park der Villa Weißenburg. Einen notgedrungen virtuellen Auftritt hatte Madame noch vor Kurzem in „RASHÔMON“ von Nina Kurzeja. Beim „Streifzug durch die Urbanstraße“ kann man der Stuttgarterin deshalb nach wie vor begegnen: rauchend, essend, überaus lebendig - und zwischen Passant*innen und Phantomen fast ein wenig wehmütig ihre Erinnerungen beschwörend. Und ein letztes Mal erscheint Madame, sylphidengleich den cis-moll-Walzer von Chopin interpretierend: eine Szene wie aus dem Film „She Dances Alone“ mit Kyra Nijinsky und doch ganz speziell. Ein Film als Vermächtnis, der von ihr bleibt: www.rashomon-stuttgart.art
Diane Marstboom ist am 13. Januar gestorben, 73-jährig. Zwanzig Jahre jünger war Birgit Brux, die am 11. Dezember einer schweren Krankheit erlag.
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