Magie der Masse

Das Tschaikowsky Perm Ballett glänzt in seiner Mega-Interpretation von Schwanensee mit der Kunstfertigkeit des Ensemblespiels

München, 07/08/2004

Nichts, was es nicht schon gegeben hätte, in der 127jährigen Geschichte des wohl populärsten Ballettklassikers: Bei seiner Uraufführung 1877 in Moskau fiel Peter Tschaikowskys Abendfüller „Der Schwanensee“ erst einmal durch und musste volle 17 Jahre auf die für den dauerhaften Erfolg entscheidende Neuinszenierung durch das legendäre Choreographenpaar Marius Petipa und Lev Iwanov warten. Die romantisch-geometrische Schönheit der beiden sogenannten „weißen Akte“ setzte Maßstäbe für die weitere Entwicklung des Repertoires und die Doppelrolle der Odette/Odile wurde zur Herausforderung für jede klassische Ballerina. Die Männer hingegen mussten lange mit der Rolle des bloßen Partners vorliebnehmen. Doch auch hier hat seit Waslaw Nijinsky eine tänzerische wie dramaturgische Aufwertung stattgefunden; zu denken ist dabei an Rudolf Nurejews atemberaubend virtuos ausgebaute Siegfried-Variationen, die psychologisierend-aufgeladene Ballettversion des Schweden Mats Ek oder die furiose Umkehrung der Geschlechter in Matthew Bournes Londoner Swan Lake.

Am 3. August wurde im Münchner Prinzregententheater die Rezeptionsgeschichte des Werks um keine weitere Innovation bereichert. Dennoch hatte die für das Tschaikowsky Perm Ballett bearbeitete Neufassung der traditionellen Version unter dem Etikett „Der größte Schwanensee der Welt“ seine Meriten – ein Event, das auf Seiten der Zuschauerränge gewichtig-feudal begangen wurde und für jedermann – mit dem nötigen „Kleingeld“ – noch bis zum 22. August erlebbar ist. Wie wichtig dieser Auftritt den 150 aus Russland angereisten jungen Tänzern war, bewies ihr fulminanter – bisweilen auch nervlich angespannter – Einsatz an diesem Abend: So leichtfüßig und trotz der Bühnenenge technisch perfekt austariert hat man das Hofgefolge im ersten Bild selten tanzen gesehen. Allen voran lautlos durch die Luft wirbelnd und sich immer wieder sprunggewaltig in den Vordergrund spielend: Nikolay Vyuzhanin als Narr. Wunderbar frisch in den schlichten Hängekulissen wirkte auch das ganz im traditionellen Stil gehaltene Pas de trois des Prinzenfreundes Benno und seiner beiden Gespielinnen.

Wirklich schade, dass im weiteren Verlauf des Stücks diese Dynamik ausgerechnet an den dramatischen Stellen der Handlung wie den Begegnungen des Prinzen Siegfried mit Odette oder Rotbart durch eine allzu passiv gehaltene und posenverliebte Choreographie ausgebremst wurde. So blieb für Ivan Popov, den erst 22jährige Gastsolisten aus dem Kirovballett, wenig mehr zu tun, als elegant einherzuschreiten und sich mimisch präsent zu zeigen; kein Wunder, dass der Sprungbegabte – ein danseur noble par excellence – versuchte, all sein Können in der einzigen tänzerisch interessanten Sequenz im zweiten Akt zu komprimieren, was mangels Lockerheit dann aber leider etwas erzwungen wirkte. Zudem hatte man ihm mit Elena Kulagina (seit 1982 Primaballerina der Kompanie) eine zwar kraftvolle, dafür aber wenig lyrische Interpretin der Schwanenprinzessin zur Seite gestellt. Technisch nicht immer ganz so, wie man es sich gewünscht hätte, zeigte sie in Abstimmung mit dem Dirigenten Valery Platonov zu durchweg schnellen Tempi alle Qualitäten der guten alten russischen Schule. Wie expressiv die tradierte Körpermimik sein kann, konnte man an Rady Miniakhmetovs Rotbart erleben, wenngleich er im Finale seine verzauberten Schwäne und die gerettete Odette mangels Interaktion quasi kampflos an den Prinzen verlor. Der Einfall, einzelne schwarze Schwäne unter die insgesamt 48 (statt 24 oder 36) der gewöhnlich nur in weißen Tüll gekleideten Ballerinen zu mischen, blieb deshalb belanglos – zumal dieses Großaufgebot auf der Bühne des Prinzregententheaters nur in kurzen Passagen überhaupt möglich ist.

Fazit: Sieht man über das fehlende dramaturgische Konzept dieses mit allem drum und dran knapp dreistündigen „Schwanensees“ hinweg, dessen Ausarbeitung wohl mehr gebraucht hätte als das oberflächliche Phänomen der Masse, bleibt eine vorbildliche Ensembleleistung in Erinnerung. Wem’s reicht...

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