Willkommen in der virtuellen Welt

Digitale Uraufführung von „All For One And One For The Money“ von Richard Siegal und dem Ballet of Difference am Schauspiel Köln

Eintauchen in eine andere Welt. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich - Tanz, Gaming, Social Media. Navigation durch unterschiedliche Ebenen, selbst entscheiden können. Dazu das stete Hinzukommen neuer Kommentare im Chat.

Köln, 21/11/2020

von Roxane Lindlacher

Ein schwarzer Bildschirm. Dann beginnt der Live-Stream. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich - Tanz, Gaming und noch mehr. Navigation durch unterschiedliche Ebenen, selbst entscheiden können. Dazu das stete Hinzukommen neuer Kommentare im Chat. Wir tauchen ein in eine andere Welt und lernen eine vollkommen neue Art und Weise kennen, Tanz zu erleben.

Das neue Projekt „All For One And One For The Money“ von Richard Siegal und dem 2016 von ihm gegründeten Ballet of Difference steht mit seinem innovativen und multimedialen Charakter ganz im Zeichen des US-amerikanischen Choreografen und seiner Kompanie. Dennoch: wer hier auf modernen Tanz im Live-Stream hofft, wird überrascht! Ein Versuch, Tanz und zunehmende Digitalisierung zu vereinen, speziell für den virtuellen Raum konzipiert und ausschließlich live abgehalten. Menschen auf der ganzen Welt können daran aktiv teilnehmen, anonym vor dem Bildschirm, ihre Interaktion ist Teil der Performance. Das Thema ist der digitale Raum und seine Dynamiken. Cyber-Kapitalismus, Digitalisierung und soziale Medien werden in der Performance reflektiert und dekonstruiert, die Frage nach der eigenen Identität im Netz ist zentral.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn gibt der Choreograf selbst eine kurze Einführung zu den interaktiven Funktionen auf der Plattform: Gleichzeitig finden auf drei Kanälen verschiedene Performances statt, so können wir selbst wählen, wo wir gerade zusehen möchten. Wie auf einer Party bewegen wir uns durch die Räume, beobachten und nehmen am Geschehen teil, bekommen dabei aber nicht mit, was in den anderen Locations vor sich geht. Siegal fordert dazu auf, die Chat-Funktion aktiv zu nutzen und wirbt auch für die Möglichkeit, sich zusätzlich Special Content gegen Bezahlung freizuschalten. Sobald man genug gesehen hat kann man den Stream wechseln, wir haben die Möglichkeit der selektiven Unterhaltung.

Um Punkt 20 Uhr beginnt die Performance. Auf den Streams 2 und 3 finden wir zwei Schauspieler. Sie philosophieren über die Dynamiken des Internets, Cyberkapitalismus und den Online-Marketplace, das Abgreifen von Daten und die absolute Kontrolle im Netz. Dabei tragen sie virtuelle Filter, beispielsweise eine Katze auf dem Kopf, und nehmen uns mit in die Welt des Online-Gamings. Stream 1 beinhaltet Siegals Choreografie, die Tänzer*innen spiegeln in einer Umgebung aus Licht und elektronischer Musik die Auseinandersetzung mit dem digitalen Raum wider. Die eigene Sichtbarkeit ist zentral, Gemeinschaft und Isolation. Immer wieder kommt es zur Interaktion mit der Kamera, der Blick durch den Bildschirm wird durch das Formen eines Vierecks mit den Händen körperlich greifbar.

Die Neugierde verleitet dazu, sich den Special Content zu holen. Zwei weitere Streams geben einen Einblick hinter die Kulissen, Tänzer*innen der Kompanie beleuchten verschiedene Aspekte des Internets, die Vor- und Nachteile der sozialen Medien. Bald schon sind die Hauptkanäle wieder spannender, wir wurden verlockt von dem Angebot, noch mehr Entertainment zu erhalten und sind darauf reingefallen. Aber schon zu Beginn wurden wir gewarnt: Nichts in der virtuellen Welt ist gratis.

Als der Tanz auf Stream 1 endet, erscheint stattdessen ein ASMR-Video, das eine junge Frau beim Essen zeigt. In den Kommentaren wird deutlich, wie das Publikum unruhig und aggressiv wird, sobald seine Erwartung nicht mehr erfüllt wird. Die Stimmung kippt, Menschen fordern ihr Geld zurück oder Hinterfragen den Sinn des Ganzen.

Dann kehrt der Tanz zurück, stärker und unbändiger als zuvor. Der Unmut im Chat schlägt in Begeisterung um, die Choreografie und das Konzept wird gelobt. Interaktive Features erscheinen, wie das Scannen eines QR-Codes, der dazu auffordert, alle sozialen Medien zu deinstallieren. Die Lichtshow von Matthias Singer fasziniert und setzt die Tänzer*innen in eine mal verpixelte, mal farbenreiche digitale Landschaft. Die Musik von Lorenzo Bianchi Hoesch verbindet starke elektronische Beats mit atmosphärischen Klängen, sie vereint die verschiedenen Elemente der Performance und bildet ein starkes Narrativ. Diese Choreografie fesselt. Ausdrucksstarke, hektische Bewegungen, synchron oder solistisch, verbildlichen das Gefangensein der Körper und ihre Navigation in den Sphären des Netzes. Langsam kommen wir zur Ruhe, ein einsamer Körper, umhüllt von Licht und Klängen, bleibt verloren zurück. In unserer Gemeinschaft sind wir doch am Ende alle allein. „The death of all and all together lost.“ Das Wort UNINSTALL wird uns als letzte Botschaft mitgegeben.

Die Interaktivität in „All For One And One For The Money“ ist es, was dem Publikum die Dynamiken der Internets vor Auge hält. Es kommt zu einer Aufwertung der eigenen Position und unseres point of view. Die aktive Teilnahme am Chat, das Auswählen des Streams und somit das Abtauchen in verschiedene Parallelwelten reproduzieren die Navigation im Web. Erst durch diese Teilnahme erhält die Performance ihre Gewichtung und Signifikanz, durch den Prozess dieser Interaktivität werden Unterhaltungsstrategien, Cyber-Kapitalismus, Abhängigkeiten, Manipulation, Gemeinschaft, Einsamkeit und Identität offengelegt. Die Verortung der Performance im virtuellen Raum eröffnet ein Spektrum neuer möglicher Projekte in einer zunehmend digitalisierten Welt. Ein mutiger Versuch für alle Beteiligten, der eine andere Perspektive für den Tanz eröffnet und neue Möglichkeiten für die Zukunft beinhaltet.
 

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