„Die Räuber“ von Marguerite Donlon in Zusammenarbeit mit dem DDC
„Die Räuber“ von Marguerite Donlon in Zusammenarbeit mit dem DDC

Tanztheater in Hildesheim

„Die Räuber“ von Marguerite Donlon in Zusammenarbeit mit dem DDC

Ursprünglich sollte als Saison-Highlight das Trilogie-Event „1+1+1“ als spartenübergreifendes Projekt stattfinden. Das heißt, drei ganz verschiedene Vorstellungen der „Räuber“ - nun mussten Oper und Schauspiel außen vor bleiben.

Hildesheim, 02/11/2020

Kein Vorhang. Den gibt’s in der Halle 39 gar nicht, die auch sonst nicht unbedingt dem 'theater für niedersachsen' (TFN) als Aufführungsort dient. Doch das Stadttheater Hildesheim ist seit September zu. Ein technischer Defekt hat am Ende der Hauptprobe der getanzten „Räuber“ die Sprühflutanlage ausgelöst. 50.000 Liter Wasser ergossen sich auf die Bühne und den frisch renovierten Zuschauerraum. Für längere Zeit ist das Haus unbespielbar.

Als ob es durch die Pandemie nicht schon genügend Probleme gäbe! Ursprünglich sollte ausgerechnet am 1. November als Saison-Highlight das Trilogie-Event „1+1+1“ stattfinden. Das heißt, drei ganz verschiedene Vorstellungen der „Räuber“ – mal als Melodramma serio „I Briganti“ von Saverio Mercadante, mal im Schillerschen Original (aber englisch und türkisch übertitelt), mal als Tanztheater, erarbeitet von Marguerite Donlon in Zusammenarbeit mit dem Donlon Dance Collective. Und dieses spartenübergreifende Projekt, dem in den kommenden Spielzeiten weitere folgen sollen, wäre wirklich etwas Einmaliges gewesen, etwas ganz Spezielles – nicht zuletzt auch durch die Tatsache, dass Intendant Oliver Graf damit dem einst weggesparten Tanz innerhalb seines Theaters wieder zu willkommenen Auftrittsmöglichkeiten verhelfen kann.

Spät kommen sie, aber hier kommen „Die Räuber“ gewaltig, auch wenn Oper und Schauspiel im Ausweichquartier außen vor bleiben. Dabei ist das Donlon Dance Collective, kurz DDC genannt, keine personenreiche Projektkompanie. Doch die vier Tanzenden, denen sich immer wieder Annick Schadeck als Amalia zugesellt, füllen mit ihren Emotionen die bis auf ein paar Holzgerüste leergeräumte Bühne. Marioenrico d’Angelo hebt sich gleich zu Anfang aus der Dunkelheit, im schwarzen Outfit von Belén Montoliú, das das Grafengeschlecht charakterisiert: kein Franz als Ausbund von Hässlichkeit, sondern eine Tänzerpersönlichkeit, die sich in seine Wut hineinzufressen scheint. In kriechenden, konvulsiven, auch lüsternen Bewegungen windet er sich immer wieder hinauf zu der Lichtgestalt, die über dem Geschehen thront. Den Blick suchend in die Ferne gerichtet, lässt sich Amalia in ihrer Liebe zu Karl nicht beirren. Der ist nicht wirklich weit, doch die Briefintrige seines Bruders lässt ihn nicht in ihre Nähe kommen.

Das alles ist überwältigend inszeniert von Marguerite Donlon, der die vieldeutigen Holztürme von Belén Montoliú auf wirkungsvolle Weise entgegenkommen. Verschiebbar, lassen sie an Kerkerräume denken, an Verließe, in den der alte Moor nicht nur dem eigenen Tod entgegenschmachtet, sondern sich delirierend fast shakespearehaft in zwei Persönlichkeiten spaltet. Zugleich erinnern sie an die Bäumhäuser im Hambacher Forst und rücken die „Räuber“ in ihren hellgrauen Kapuzenkleidern damit in die Nähe zeitgenössischer Hausbesetzer, Chaoten, Guerillakämpfern, die zwar in Schillers Sinne der Obrigkeit die Stirn bieten, nicht aber merken, dass sich die Gang ihr eigenes Recht schafft, das dem der Gesellschaft zuwiderläuft. Am Ende wird Amalia fast ein Opfer brutaler Bandengewalt. Ihr Tod erscheint hier eher als logische Folge eines Ehrenkodex’, der den Gruppenerhalt höher einstuft als das Einzelschicksal.

Ohne pantomimisch zu verdeutlichen, macht Marguerite Donlon eine durchaus komplexe Handlung auf tänzerische Weise sichtbar. Alle Bewegungen sind kraftvoll, fast athletisch, dabei unverkrampft zeitgemäß. Sie lassen erprobte Kampftechniken spüren, ohne darüber an Sensibilität zu verlieren. So männlich Péter Copek (der alte Moor), Ruan Martins (Karl), Marionenrico d’Angelo (Franz) und Stefane Meseguer Alves (in wechselnden Rollen) auch immer auftreten: es bleibt ihnen stets ein Rest von Verletzlichkeit, von Verzweiflung, ja von Schweigen, selbst wenn die „mitreißende“, atmosphärisch stimmige Musik von Michio Woirgardt durchaus auch Schillers Worte durchaus hörbar macht. So sorgen Ruan Martins und Annick Schadeck für einen schönen Moment einem Sehnsuchtssolo zu zweit, das den Abstand zu einem emotionellen Ereignis macht.

Wie gesagt: die „Räuber“ kommen gewaltig, und deshalb bleiben sie einem als eine unmissverständliche, dabei vieldeutig virtuose Aufführung in Erinnerung, die gleich auf doppelte Weise Hoffnung weckt. Hoffnung, dass sie nach einem Lockdown mit oder ohne Vorhang auch ein jüngeres Publikum in die Halle lockt. Hoffnung, dass die Hagener Ballettchefin künftig an ihrem neuen Arbeitsort Osnabrück dem Tanztheater dramatische Impulse gibt. Schiller ist schon mal ein guter Anfang.
 

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