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Stuttgart
LIEBESERKLÄRUNG
"Lieben Sie Gershwin?" von Marco Goecke und Gauthier Dance
Die Distanz ist gewahrt, und doch können die beiden nicht voneinander lassen. Marco Goecke positioniert Anneleen Dedroog und Garazi Perez Oloriz auf beiden Seiten der geschwärzten Bühne. Noch schauen sie sich nur an. Erst langsam lösen sie sich aus ihrer Erstarrung, um sich in ihren Bewegungen zu bespiegeln. Aber die Anziehungskraft ist übermächtig, und während aus dem Off der Gershwin-Song „I Loves You, Porgy“ erklingt, kommen sie sich Schritt um Schritt näher. Ja, schließlich scheinen sich die beiden zu umarmen, ohne dass sie sich wirklich berühren, aber wenn sie es endlich tun, verstummt vor lauter Ehrfurcht selbst die Musik. Und eine halbe Ewigkeit verharren die beiden in innigster Umarmung, als wollten sie nie mehr voneinander lassen.
Besser lässt sich die gegenwärtige Situation nicht fassen, und möglich gemacht wird sie, weil sich Anneleen Dedroog und Garazi Perez Oloriz seit Jahren eine Wohnung teilen. Es ist das einzige Duo, das sich in der neuesten Kreation von Gauthier Dance findet. Noch vor der Sommerpause hat Marco Goecke „Lieben Sie Gershwin?“ choreografiert, noch unter dem Eindruck des kurz zuvor gelockerten Lockdowns, aber unter Berücksichtigung all der strengen Hygiene-Vorschriften, die nach wie vor in Baden-Württemberg für alle Theater gelten: kein Problem für den Direktor des Staatsballetts Hannover, der als Artist in Residence eine Vertrauensstellung bei Gauthier Dance genießt. Er hat schon immer auf Abstand gearbeitet, allerdings nicht unbedingt auf sechs Meter. Und locker vom Hocker choreografiert er ohnehin, in diesem Fall der Umstände halber eben vom Fensterbrett des Proberaumes aus.
Der gut eine Stunde dauernden Liebeserklärung ist jedenfalls die Lust nicht vergangen, auch wenn im Höchstfall drei Ensemblemitglieder zugleich auf der Bühne agieren. Theophilus Vesely macht zu Gershwins „Summertime“ den Anfang, und wie so oft bei Goecke wünscht man sich, auch dieses Solo vor dem inneren Auge so dehnen zu können, bis man das ganze Spektrum jeder einzelnen Bewegung begreift. Selbst der kleine Finger ist Teil einer detailreichen Choreografie, und wahrscheinlich wird jeder Wimpernschlag noch in den Gesamteindruck miteinbezogen. Sogar die Pailletten auf seinem schwarzen Anzug tanzen mit, und die Schaufäden, die möglicherweise an Gershwins Judentum erinnern sollen, machen jede Bewegung zu einem Ereignis.
Erinnern gestückelte Armmotionen zum nachfolgenden Klavierkonzert in F-Dur noch an den Staccato-Rhythmus eines Filmstreifens, werden Sekunden später andere Assoziationen geweckt. Marco Goecke spielt immer wieder mit Erinnerungen, aber bevor sie sich im Betrachten verfestigen können, hat er längst ein anderes Aktionsfeld entdeckt. Von Udo Haberland lebendig eingeleuchtet, springt er von einem Solo zum anderen. Mal wird es verdoppelt, mal verdreifacht, und wenn es sich zu wiederholen droht, öffnen sich im Hintergrund auf einmal die Vorhänge und lassen im Spiegel für einen kurzen Moment eine lang entbehrte Raumdimension erkennen. Auch der Rücken, in früheren Goecke-Stücken Projektionsfläche vieler Ideen, kommt hier wieder einmal zum Zug. Das Mienenspiel, das geflüsterte Wort sowieso.
Das alles zu einer nicht immer bekannten Musik, die in die Füße, vor allem aber in die Arme geht. Die bekannteste Komposition steht am Schluss, die „Rhapsody in Blue“. Theophilus Vesely interpretiert sie, als hätte er den Teufel im Leib: manchmal hysterisch, höhnisch ins Publikum feixend; dann wieder so, als wäre uns Vaslav Nijinsky wiedergeboren, dem Marco Goecke in einem abendfüllenden Ballett bereits ein Denkmal gesetzt hat, um zuletzt nach seiner Parforcetour wie von einem Alb befreit aufzuatmen.
"Lieben Sie Gershwin?" Was für eine Frage! Das Publikum jubelt bei der Montagsvorstellung im Theaterhaus. Die Zuschauer in Ludwigshafen, Aschaffenburg, Karlsruhe, Bozen, Köln, wo immer auch Gauthier Dance in den nächsten Wochen gastiert, dürfen sich gefasst machen auf einen Abend, den man gerade in Corona-Zeiten nicht so schnell vergessen wird.
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