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Gießen
VARIATIONEN VON VERGANGENEM
Soli für die taT-Studiobühne in Gießen
Auch am Stadttheater Gießen muss die Tanzcompagnie schauen, wie sie sich nach dem Corona-Lockdown neu sortiert. Erst Anfang September war gemeinsames Training im Ballettsaal wieder möglich, regelmäßige Rachenabstriche auf eine mögliche Infektion sind Voraussetzung. Die geplanten Wiederaufnahmen aus der letzten Spielzeit sind dennoch abgesagt, da die gebotenen Abstandsregeln nicht einzuhalten sind. Weder das atmosphärisch dichte Stück „Jagen“ von Olga Labovkina für die kleine Bühne, noch „Don Juan“ von Ballettdirektor Tarek Assam, das kurz vor dem Lockdown im Großen Haus Premiere hatte, können derzeit wieder einstudiert werden.
Daher hat man sich, wie an vielen Theatern, entschieden kleine Stücke, zumeist Soli einzustudieren. Assam und Mitglieder der Tanzcompagnie (TCG) haben dafür Momente aus den Premieren der letzten Spielzeit aufgegriffen, diese variiert und weiterentwickelt. Am Premierenabend waren auch zwei neue Kurzchoreografien dabei. Unter dem Oberbegriff COLOURS & SPECIALS werden an den kommenden Abenden jeweils unterschiedliche Stücke gezeigt, bei denen maximal sieben Tänzerinnen und Tänzer auftreten. „So bleiben wir flexibel“, begründet Assam.
Für treue Tanzfans ist es ein zusätzliches Vergnügen, Elemente wiederzuerkennen, was aber keinesfalls Voraussetzung ist, um die ersten Tanzabende auf der taT-Studiobühne genießen zu können. Insgesamt ist der Eindruck schwermütig, sogar bedrückend, was mitgeprägt wird durch die gewählten Musikstücke. Große Dynamik oder dichte Atmosphäre entstehen nicht. Nur das Solo von Magdalena Stoyanova bringt Leichtigkeit und Lächeln ins Spiel. Sie tanzt mit der Puppe Don Juan (Barbies Ken), amüsiert sich in ihrer souveränen Körpersprache und Mimik über Macho-Allüren.
Chiara Zincone demonstriert zu treibendem Rhythmus Möglichkeiten, sich vom Boden wieder in die Vertikale zu bringen, dieses nach-oben-Streben in geschmeidigen Bewegungen ist ein Moment aus "Don Juan". Das Don Juan-Solo von Jeremy Curnier, in der markanten Hose mit den behaarten Waden, erzählt von der Verzweiflung eines Menschen, der mit sich nicht klar kommt.
Aus „Jagen“ zeigte Julie de Meulemeester ein fragil wirkendes Stück, in dem es um das Balance-Finden gingen. Ihre Bewegungen liegen dabei oft weit außerhalb des Körperschwerpunkts. Gleidson Vigne hat einen Part aus der letztjährigen TanzArt-Site-Specific auf dem Hubschrauberlandeplatz des Johanniter-Stützpunkts gewählt (Choreografie Lucyna Zwolinska). Losgelöst von der Umgebung und den Tanzkolleg*innen erscheint sein Tanz als eine schmerzhafte Körpererfahrung, die von Verletzung und Erschöpfung geprägt ist. Was natürlich dem ursprünglichen Ort, dem Johanniter-Unfallstützpunkt geschuldet war.
Ein neues Stück hat Assam gemeinsam mit und für Michael D’Ambrosio geschaffen. Hier scheint es um die Überwindung von Distanz und Schwerkraft zu gehen. In aufrechter Position strebt er danach, die Umgebung mit ausgestreckten Armen räumlich zu erkunden und das feinteilige Spüren über Fingerreiben sichtbar zu machen. Ebenfalls neu war das erste Stück dieses Premierenabends, auch in einer Choreografie von Assam, in dem der Neuzugang Giovanni Fumarola einen beeindruckenden Einstand gab. Zunächst auf der Stelle stehend, nur mit dem Oberkörper agierend, scheint sein Körper völlig von der stark rhythmischen Musik erfasst und angetrieben zu sein. Daraus wird allmählich ein Wechsel zwischen kleinsten Muskelbewegungen und großen Sprüngen.
Es war für alle Beteiligten eine Erleichterung und eine Freude sich wieder zu begegnen, auch wenn es noch im kleinen Kreis war.
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