Hoher Repertoire-Wert

Das Tokyo Ballett tanzte Béjart

Stuttgart, 16/07/2004

Ein ungeheuer starker Wille steckt hinter der Formgebung dieser drei Béjart-Ballette, die zwischen 34 und 45 Jahre alt sind und mit ihrer ungebrochenen Bildkraft noch immer faszinieren. In „Le Sacre du Printemps“, uraufgeführt 1959 in Brüssel mit einer eigens zusammengestellten Kompanie, aus der ein Jahr später das bis 1987 bestehende „Ballett des 20. Jahrhunderts“ hervorging, beeindruckt Maurice Béjart durch die strenge Architektur der Muster und seine Ensembleführung. Sukzessiv richten sich Männer auf wie Pflanzen und stellen so den seit Nijinsky vorgegebenen Bezug zur Erde her. Schon bevor die stampfenden Rhythmen einsetzen, überträgt sich die Konzentration einer wachen, aggressiven Maskulinität auf die Zuschauer, die in Stuttgart ein homogenes, sehr exakt tanzendes Ensemble erleben. Aber zugleich wirkt das Tokyo Ballett etwas mechanisch, sodass die Dämonie des Ausdrucks verkleinert wird – was wie eine Analogie zur Körpergröße der kleinen japanischen Tänzer im Unterschied zu den imposanten Gestalten aus Béjarts eigenem Männer-Corps erschien. Dennoch ergaben sich, zumal als die Frauen aufgetreten waren, höchst effektvolle Kompositionen. Es wurde alles mustergültig ausgeführt, doch das Problem war im Großen wie im Kleinen dasselbe: Mika Yoshioka tanzte als die Auserwählte mit feiner Technik, Temperament und hohen Beinen, schön anzusehen aber blutleer. Und das Corps der Männer umkreiste drängend die in ihrer Mitte verschlossene Knospe der Frauen, was zum Zusammenfinden der Geschlechter führt. Aber dabei vermittelte niemand, dass in den rhythmisierten Bewegungen eine triebhafte Naturkraft zitiert wird, die sich in der kompakten Stilisierung aufstaut.

Nicht mehr von der politischen Brisanz, die sie in ihrem Entstehungsjahr 1970 vielleicht hatte, aber noch immer durch ihre theatralische Kraft beeindruckend, mit der sie heute eine Art von Che-Guevara-Romantik evoziert, ist Béjarts Adaption von Fokins „Feuervogel“. Das Feuer und den Kampf von Partisanen, deren Führer (Kazuo Kimura) fiel und durch einen anderen wie durch einen Phönix (Naoki Takagishi) ersetzt wurde, zeigten die japanischen Tänzer von Anfang an recht expressiv. Da die Solisten mit weich gelandeten, hohen Sprüngen und schnörkelloser Präsenz überzeugten, ergab sich im Wechsel von starken Posen und aufflammender Dynamik immer wieder die Béjart-spezifische, spannende Wechselwirkung zwischen den Solisten und dem Corps.

Dies alles fehlte leider im „Bolero“, den Béjart im Jahr 1961 als einen sich erotisch aufstauenden Vulkan schuf. Auch dieses Stück war ursprünglich eine Produktion der Ballet Russes: 1928 komponierte Maurice Ravel sein berühmtes Crescendo für die Choreografie von Bronislava Nijinska. Auf einem vom Corps umlagerten Tisch hält eine charismatische Tänzerin die sie Begehrenden in Schach, ein spannendes Gegeneinander, in dem sie im letzten Augenblick unterliegt. Béjart hat die Hauptrolle mal männlich, mal weiblich besetzt – Jorge Donn und Silvie Guillem gehörten zu seinen Protagonisten, in Stuttgart waren es u. a. Marcia Haydée und Richard Cragun. Nun aber mühte sich Mizuka Ueno. Eine eher charmante als aufreizende Lolita, als Tänzerin stellenweise virtuos, an anderen Stellen ungenau, aber nie extrem und darum nicht entfernt die fanatische Kraft der Musik erreichend. Auch das erneut exakt tanzende Corps erzeugte nie eine hitzige Atmosphäre. So gab es in diesem „Bolero“ nichts Dämonisches, diabolisch Besessenes, keinen Wahnsinn, nicht einmal unbändige Lebensgier. Das Stuttgarter Publikum war nicht gepackt, wie so oft in dieser Spielzeit von der eigenen Compagnie, spendete aber am Ende freundlichen Applaus von stattlicher Dauer.

Dank muss man dennoch sagen für ein großes Gastspiel, aus dem man vieles lernen kann: Für das rein japanisch besetzte Tokyo Ballett wären Europäer, Amerikaner oder andere Nationalitäten ein Gewinn. Denn wären sie in dieser Kompanie vertreten, würden sich die verschiedenen Temperamente vermutlich klarer definieren und profilieren. Dieser Prozess könnte sowohl Persönlichkeiten als auch eine persönliche Note hervorbringen, ohne die internationale Spitzenkompanien längst nicht mehr auskommen. Das würde auch dem üblichen choreografischen Crossover-Angebot entsprechen. Béjart ist selber ein gigantisches Exempel dafür, wie man verschiedene Traditionen zu etwas Eigenem verschmilzt. Seine Stücke sind von höchstem Repertoire-Wert und werden, seit die 80er Jahre in Stuttgart ausgeklungen sind, hierzulande viel zu selten aufgeführt. Sie verlangen Persönlichkeitsstärke in allen Hauptrollen. Stuttgart hat wieder Tänzer, die das könnten. Béjart sollte aber auch für andere Kompanien eine Herausforderung bleiben, zum Beispiel für das Bayerische Staatsballett, das fast alle Choreografen anbietet, die Rang und Namen haben. Ein Ersatz für Béjarts „Ring“ muss her, er darf auch eine Nummer kleiner sein.

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