„Portrait of Frédéric Tavernini“ von Noé Soulier

„Portrait of Frédéric Tavernini“ von Noé Soulier

Mit verbaler Komponente

Abschlussbericht zur Tanzwerkstatt Europa 2020

Tanz als Ausstellung individueller Zustände: Jan Martens' und Marc Vanrunxts „lostmovements“, Noé Souliers „Portrait of Frédéric Tavernini“ und Mette Ingvartsens „21 pornographies“ schließen das diesjährige Münchner Festival.

München, 15/08/2020

Wenn man darüber nachdenkt, wodurch die erste Hälfte der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa bestimmt wurde, ist die Antwort zwar eindeutig, aber auch mehrschichtig: Tanz in seiner energetischen Schönheit, pointierten Exaktheit, suggestiven Leichtigkeit, raumgreifenden (Ausdrucks)Kraft und inhaltlich abstrakten Wirkung. Dann aber kam der 36-Jährige Belgier Jan Martens und wuchtete die – in erster Linie musikalisch aufgewühlten – „lostmovements“ auf die Bühne der Muffathalle. Ein einstündiges Performanceporträt, dessen aufeinanderfolgende Phasen von hohler Einsamkeit, übertriebener Dramatisierung und emotionaler Schizophrenie sich in jeweils neuem Shirt-Gewand und zwischen drei unwirtlichen skulpturalen Gebilden aus Metall, Beton und Holz abspielten.

Plötzlich wird Tanz zur Ausstellung individueller Zustände benutzt. Und das für den Rest des Tanzwerkstatt-Programms stets in Verquickung mit einer verbalen Komponente. Martens nimmt sich beispielsweise viel Zeit, zu Beginn und Schluss seiner Show hinter geschlossenen Augenlidern eine Latte an Künstler*innen herunterzubeten, denen er zu danken hat. Nur Komponist*innen kommen bei diesem Name-Dropping-Shake quer durch die Epochen nicht vor.

Zugleich wird der Tänzer einerseits akustisch schier erdrückt von Yves Tumors „Hope in Suffering“ bzw. von viel Chorgesang – darunter Teile von Pendereckis „Polnischem Requiem“ –, andererseits springt und gestikuliert Martens gepuscht von den monumentalen Klängen wie ein Kind Isadora Duncans herum. Mit maskulin-pathetischen Passagen, in denen der Schub seiner Arme oder Sprungattacken das klangliche Gegenüber offenbar lenken soll. Doch als er – einem antiken Seher gleichen wollend – die Hände gen Himmel reißt, fehlt schlicht die Tragödie. Dass zuletzt ein Regenbogenlichtkreis seinen nackten, bäuchlings auf einem Tuch ausgestreckten Körper bedeckt – was soll’s?! Insofern durfte man den deutschen Titel „Verlorenheit in Bewegung“ getrost wörtlich verstehen. Die gemeinsam mit Marc Vanrunxt, seinem 24 Jahre älteren Antwerpener Choreografenkollegen, ausbaldowerte Idee zündete nicht. Beim ersten Live-Auftritt seit dem Lockdown auch noch Geburtstag zu haben, reicht für Ovationen leider nicht aus. Der Kuchen als Dreingabe, auch wenn für die herzliche Geste das Bühnenlicht ausgeschaltet blieb, war trotzdem verdient.

Welche Summe an Erfahrungen spricht aus einem Künstler, je älter er wird? Dieser Frage ging der Pariser Tänzer und Choreograf Noé Soulier in seinem „Portrait of Frédéric Tavernini“ nach. Ebenfalls ein Partner-Projekt der Tanzwerkstatt Europa mit solistischem Output – im intimeren Ambiente des Theaters HochX. Den Mittelpunk bildet Tavernini selbst, der bereits letztes Jahr an der Seite von Louise Lecavalier durch seine tänzerische Strahlkraft und Präsenz auffiel.

Diesmal hängt ein leerer Bügel an der Hintertür. Für das blaue Hemd, das der Mann schnell abstreift, um sofort danach in sein Tänzer-Alter Ego zu schlüpfen. Dessen Sprachrohr sind Bewegung und immer wieder bedeutungsvoll ausgeführte Gesten. Sein Begleiter am Klavier ist Soulier höchstpersönlich. Bedauerlicherweise bleibt aber der Großteil seiner auf Englisch gesprochenen Erläuterungen schwer verständlich. Der innere Bogen der Performance spannt sich entlang von acht Tattoos. An Taverninis Armen, Schultern und Brust sind sie Haut gewordene Erinnerungen. Angefangen beim Namen seiner Tochter.

Den Lebensknick beschert ihm seine Frau Guernica, als sie ihn samt Tochter verlässt. Schmerz, der sich wie ein roter Faden durch die Aufführung zieht. Auch wenn dazwischen Béjarts forsches Händezwinkern, große ballettöse Préparationen und längst in die Vergangenheit gerutschte Sprungkombinationen aufflackern. Was hängen bleibt, ist der Abgrund, an dem sich Tavernini mit ausgebreiteten Armen am Platz balancierend zu Tschaikowskys „Schwanensee“-Adagio aus dem 3. Akt ins Black Out verabschiedet. Zwischen Wahrheit und Kunst einen Riss zu treiben – hier ist es gelungen.

Für den schillernden und zugleich provokanten Schlusspunkt hatte Walter Heun die Dänin Mette Ingvartsen eingeladen. Sie brachte ihr andernorts bereits oft gezeigtes Stück „21 pornographies“ mit, in dem sie das Publikum in die infernalischen Welten sexueller Fantasien und Erniedrigungen eines Marquis de Sades schickt. Clou bei der Sache: Noch bevor sie sich ihrer weißen Bluse und schwarzen Hose entledigt, bringt sie die Vorstellungskraft des Publikums wie Scheherazade in „1001 Nacht“ in Gang. Hierhin und dorthin deutet sie ins Auditorium, während sich der Kosmos auffächert, in den sie bald selbst eintaucht. Als faszinierende Performerin und Sexobjekt zugleich, die ihre textlichen Ausführungen oft platt eins zu eins körperlich umsetzt. Blankziehen und Pissen – nun, das kennt man ja schon seit langem. Das Pralinchen am Stuhlbein der Zuschauer*innen zum kollektiven Verzehr in allen Ehren, visuell interessant wird es allerdings erst zum Schluss. Da lässt Ingvartsen das kalte Licht einer Neonröhe ihren schön gebauten Körper verformen. Zuletzt dreht sie sich mit einem Kissenbezug überm Gesicht mit der leuchtenden Trophäe so lange um die eigene Achse, bis ihre Vorführung in einer Sound-Licht-Entladung implodiert. Ein „kleiner Tod“?
 

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