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München
IMPROVISATION IN ZEITEN DES IMPROVISIERENS
"Our Daily Post" von Katja Wachter im schwere reiter München
Wir befinden uns in Zeiten, in denen man ständig reagieren muss. Reagieren auf neue Regulierungen, Beschränkungen, aber auch Lockerungen. Vorausplanen scheint nahezu unmöglich, Improvisationstalent ist stets gefragt. So passt Katja Wachters Performance „Our Daily Post“, die am vergangenen Wochenende im Münchner schwere reiter gezeigt wurde, genau zum Puls der Zeit.
Das Stück ist ein interdisziplinärer Improvisationsabend, jeden Tag mit einer anderen Besetzung aus Tänzer*innen, Schauspieler*innen und Musiker*innen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Hintergründe, ein Labor, in dem versucht wird, die Sprachen der jeweils anderen Kunstform(en) zu dekodieren.
Strukturgebend sind YouTube-Videos, die laut Ankündigungstext für jeden Abend neu ausgewählt und für die Performer*innen als Ausgangspunkt abgespielt werden. Am Premierenabend sind das eine Montage aus hunderten Fotografien und Kurzvideos der Mona Lisa im Pariser Louvre, eine Episode aus einem Wissenschaftskanal für Kinder und eine visuell sehr ansprechende Sequenz, in der tausende kleine Goldkugeln zu einer Figur verschmelzen, sich wieder auflösen und als Masse langsam über den Bildschirm gleiten.
Nachdem ein Video gezeigt wurde, wird es im Anschluss auf allen Ebenen „abgearbeitet“. Die Musiker spielen auf E-Gitarre oder Trompete mal gefällige, fließende Passagen, mal werden die Instrumente umfunktioniert und mit ihnen verzerrte, stoßhafte Geräusche kreiert. Die Performer*innen agieren und reagieren tänzerisch, aber auch sprachlich auf der Bühne. Sie spielen mit den derzeit vorgegebenen Abständen, belauern sich, richten sich nach der Position der anderen. Mal zeigt sich Irritation, mal wird das Bewegungsmuster des Gegenübers gespiegelt, mal wird es übernommen und schließlich weiterentwickelt. Am Premierenabend gibt Katja Wachter in manchen Momenten über eines der am Rand positionierten Mikrofone den Mitspieler*innen direkt Anweisungen wie „Komm hoch“ oder „Lächle doch mal.“
Bis zuletzt bleibt unklar, was an diesem Abend überhaupt geplant ist, was die Spielregeln sind, die besagen, wer wann agiert und wer lediglich reagiert. Diese Unklarheit stört aber überhaupt nicht. Vielmehr ist es spannend zu beobachten, wie sich die einzelnen Ebenen – musikalisch, tänzerisch, sprachlich – in diesem Gemeinschaftsversuch ineinander verweben und in der Suche nach Kommunikation in Zeiten des Kontaktverbots kulminieren. „Our Daily Post“ gelingt es in der privaten Atmosphäre sehr gut, trotz der physischen Abstände ein sich gegenseitiges Sehen und damit eine emotionale Nähe zu generieren und dabei ein Gefühl hervorzurufen, dessen es zurzeit viel bedarf: Hoffnung.
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