Traumabewältigung

„Isadoras Kinder“ im virtuellen Kino

"Isadoras Kinder" ist weder Spiel- noch Dokumentarfilm, sondern ein spezielles, sehr ambitioniertes Kunstwerk des Extänzers und Regisseurs Damien Manivel.

München, 07/04/2020

Damien Manipels Film „Isadoras Kinder“ sollte am 23. April in die deutschen Kinos kommen. Der Münchner Verleih Exsystent hat ihn jetzt schon auf die Plattform www.kino-on-demand.com gestellt.

Wer in diesem Movie irgendwelche Erklärungen erwartet, wird enttäuscht. Das Meiste wird einfach vorausgesetzt: Dass Isadora Duncan eine Ikone des modernen Tanzes in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war, 1913 durch einen tragischen Unfall ihre beiden Kinder verlor, diesen Verlust acht Jahre später künstlerisch in der Choreografie „Die Mutter“ aufgriff, und dass dieses Solo aus ihrem Schülerinnenkreis heraus in der von dem Ausdruckstänzer Rudolf von Laban entwickelten Tanzschrift nachträglich festgehalten wurde.

Als formaler Ersatz für ausufernde Monologe und Dialoge, die nur die vorherrschende, überaus bildpoetische, kontemplativ-emotionale Filmstille stören würden, dienen kurze Einblendungen von Datumsangaben oder historischen Abbildungen – und vor allem eine geradezu epische Breite von ungewohnt schnittlosen Kameraeinstellungen. Immer wieder im Blickfang: spielende Kinder. Der Zuschauer aber wird ohne inhaltlich schlüssige Begründung dazu verdammt, vier unterschiedliche Frauen bei ihrem Tun zu beobachten. 84 lange Minuten lang.

Im ersten von drei, seltsam lediglich über die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit dem Tanzstück miteinander verbundenen Handlungsteilen begleiten wir eine junge Tänzerin – glaubhaft-intensiv verkörpert von der französischen Schauspielerin Agathe Bonitzer – bei ihrer Duncan-Recherche. Ihr Einstieg sind die Memoiren der Künstlerin. Was diese Lektüre alles auslösen kann, mag man sich denken. Das Ganze gipfelt in einer autodidaktischen Einstudierung von „La mère“. Dafür setzt sich die Protagonistin intensiv mit der in Labanotation überlieferten Choreografie Duncans auseinander, scheint diese recht komplexe Bewegungspartitur völlig zu verinnerlichen. Schön, das anschauen und ihren künstlerisch-empathischen Zugang mitfühlen zu dürfen. Aber warum bleibt uns ein kompletter Durchlauf des bloß drei Minuten dauernden Tanzsolos und zugleich einzigem Motivationsargument des gesamten Filmplots vorenthalten? Weil die talentierte Agathe Bonitzer „nur“ Schauspielerin ist und keine Tanz-Performerin?

Mit einem Inklusionsprojekt, das am Kulturzentrum eines kleinen bretonischen Ortes aufgeführt werden soll, geht es weiter. Das einzustudierende Stück: abermals Duncans Solo „Die Mutter“. Die Beteiligten: Choreografin Marika Rizzi und als Interpretin Manon Carpentier, jugendliche Darstellerin mit Down-Syndrom. Auch bei diesem Vorbereitungsprozess entsteht ein Eindruck schier unendlicher Leere: leere Bühne, leerer Zuschauerraum, leeres Foyer bei Probenpausen, die zur Interpretation nötige Suche nach innerer Leere. Diese Bildästhetik wird dann in eine Nähe zur Gefühlsleere bzw. zum Abschiedsschmerz gerückt, die Duncan als Mutter beim Verlust ihrer beiden Kinder verspürt haben wird. In einer berührenden Sequenz drückt Manon die verschränkten Arme ohne Kind darin an ihre Brust. Im Tanz funktioniert das, in der filmischen Übersetzung leider nicht.

Die letzte epiloghafte Episode setzt hier noch eins drauf: Einsam kehrt eine ältere Zuschauerin (die jamaikanische Choreografin und Tänzerin Elsa Wolliaston) der im Teil zuvor erarbeiteten Aufführung von Duncans „La mère“ nach Hause zurück. Zuvor war die Kamera noch en détail bei ihrem Nachtmahl in einer Pizzera dabei. Am Ende erweist sich, dass wohl auch diese Frau einst ein Kind verloren hat. Allein in ihrer Wohnung greift sie Bewegungen auf. Doch dies walzt die Kameralinse mittels „gedehnter Augenblicke“ fast unerträglich aus. Der Betrachter bleibt außen vor, wird nicht mitgenommen, nirgends hineingezogen.

Bei „Isadoras Kinder“ handelt es sich weder um einen Spiel- noch einen Dokumentarfilm, sondern um ein sehr spezielles, sehr ambitioniertes Werk des Extänzers und Regisseurs Damien Manivel. In seiner völlig introvertiert-überdehnten Art des visuellen Schilderns verstört es und erinnert – in seinem eher performativen Charakter und quasi als extremer Gegenpol – an die skurril-makabre französische Filmkomödie „Die feine Gesellschaft“ mit Juliette Binoche von 2016. Momentan merken viele von uns: Besinnung auf sich selbst und Entschleunigung sind ja generell nichts Schlechtes, aber irgendwann reicht es auch.

 

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