„Soul Chain“ von Sharon Eyal

„Soul Chain“ von Sharon Eyal

Thematischer Überbau vor künstlerischer Form

Ein Rückblick auf die Tanzplattform 2020

Politisch aktuell, konzeptionell ambitioniert, aber künstlerisch durchwachsen. So fällt die Bilanz der Tanzplattform 2020 aus. Ein Rückblick auf die Ausgabe in München.

München, 09/03/2020

Sonntagnachmittag ist sie zu Ende gegangen: die Tanzplattform 2020, die in diesem Jahr von JOINT ADVENTURES in München ausgerichtet wurde. Fünf Tage lang wurden in der 14. Auflage des „Best-of-Festivals“, bei der zugleich sein 25-jähriges Bestehen gefeiert wurde, 15 Produktionen aus den letzten zwei Jahren im deutschsprachigen Raum gezeigt.

Die Auswahl erfolgte aus einem Pool von 444 möglichen Produktionen im Tanz- und Performancebereich, sowohl in der freien Szene als auch in öffentlich subventionierten Häusern. Die fünfköpfige Jury zusammengesetzt aus Honne Dohrmann (Direktor tanzmainz & tanzmainz Festival), Gurur Ertem (Soziologin und Kuratorin), Ingrida Gerbutavičiūtė (Journalistin und Kuratorin), Walter Heun (Künstlerische & Geschäftsleitung JOINT ADVENTURES und zugleich Gründungsmitglied der Tanzplattform) und Anna Mülter (Tanzkuratorin und Dramaturgin) erzählt am Tag der Eröffnung, dass der Entscheidungsprozess sehr stimmig ablief. Sie betont, dass es sich um kein kuratiertes Festival, sondern um eine Plattform handelt, bei der keine im Vorfeld aufgesetzte Agenda, sondern nur die Qualität der Stücke eine Rolle spielt, und so die aktuelle deutschsprachige Tanzszene gespiegelt werden soll. Entstanden ist dabei eine Mischung aus bekannten und aufstrebenden unbekannteren Namen, eine Mischung mit vielen politischen Stücken, die jedoch nicht durchgängig halten kann, was sie verspricht.

Die größte Enttäuschung ist sicherlich „Kabuki Noir“, die Produktion der Big Names Gintersdorfer/Klaßen, die an ihrem Mangel an Feinfühligkeit und Ernsthaftigkeit scheitert. Die Pointe des Abends wird bereits in den ersten Minuten verraten. Die traditionelle Darstellungsform des Kabuki wird mit der des ivorischen Coupé Décalé verbunden. Was dann aber folgt, ist keine tänzerische Abarbeitung dieser Verknüpfung, sondern eine Abfolge von Slapstick-Szenen mit einer Haltung, die fast wie die einer Anti-Political-Correctness-Bewegung wirkt. Das Stück spricht sich zu Beginn noch gegen Cultural Appropriation aus, macht sich dann aber im Umkehrschluss auf teilweise ziemlich problematische Art und Weise über afrikanische und asiatische Kulturen lustig und lässt zudem die Performer, die die ivorische Kultur verkörpern, nur ausführende Kraft sein. Ihr eigene Sprache darf nicht für sich allein stehen, sondern wird immer von den weißen Performer*innen übersetzt und überdeckt.

Ähnlich nutzen die beiden aus Bremen eingeladene Produktionen Mittel des Slapsticks im Umgang mit politischen Themen. „Coexist“, choreografiert von Adrienn Hód, etabliert zunächst eine Abfolge vieler Einzelsequenzen mit ausgiebig ins Alberne gezogener Nacktheit, nur, um seine eigene Struktur später vollkommen zu unterlaufen und aufzulösen. Der Versuch, gewollt provokativ politische Einschreibung von Körpern zu verhandeln, endet in einer etwas platten Diskurs- und wirren Gewaltekstase. Die ausgelassene Chance ist umso ärgerlicher, wenn man das Ende des Abends sieht, in dem die Tänzer*innen unglaublich intensiv das vertanzen, was im ersten Teil des Abends nicht ausgesagt werden konnte.

„Pink Unicorns“ von LaMacana – ebenfalls aus Bremen – erzählt die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Es tut das zwar äußerst charmant, so dass Eltern sich durchaus damit identifizieren konnten, leider aber recht eindimensional, indem man sich auf das Rumalbern und Rumtoben der beiden Performer beschränkt. All das, was eine Vater-Sohn-Beziehung ausmacht, ausmachen sollte oder zumindest ausmachen könnte – insbesondere auf der emotionalen Ebene – wird nur leicht gestreift oder ganz übergangen. Die Jury betitelte „Pink Unicorns“ als Stück, das auch für junges Publikum geeignet sei. Dies ist aber aufgrund der Sprachbarriere für Kinder (es wird Spanisch gesprochen und teilweise in Englisch übersetzt) und zudem da es sich eindeutig um eine Erwachsenensicht auf die Materie handelt, etwas fragwürdig.

Weitere kleinere Produktionen wie Moritz Ostruschnjaks „Unstern“ und Reut Shemeshs „ATARA – For you, who has not yet found the one“ haben zunächst thematisch und ästhetisch einen sehr spannenden Ansatz, verlieren aber mit der Zeit an Fahrt. Vieles ist dramaturgisch nicht zu Ende gedacht, vieles könnte stark komprimiert werden.

Überhaupt steht oftmals der thematische Überbau deutlich vor der künstlerischen Form. Die Künstler*innen versuchen ambitioniert, die großen gesellschaftspolitischen Themen zu bearbeiten und kratzen dabei aber oft nur an der Oberfläche, worunter wiederum die ästhetische Ausarbeitung leidet. Die Jury betont zwar, dass für die Auswahl einzig die Qualität der Produktionen eine Rolle spielt, das Ergebnis gibt aber ein ziemlich konträres Bild ab.

Eine bildlich schöne, aber wenig spektakuläre Eröffnung bietet Isabelle Schads „Reflection“. In einer optischen und akustischen Fabrikatmosphäre verbinden sich die Tänzer*innen, brechen immer wieder aus der Gruppe heraus und ahmen sich nach, spiegeln sich. Hier steht der Flow vor Höhepunkten oder überraschenden dramatischen Wendungen.

Joana Tischkaus Abschlussarbeit „PLAYBLACK“ ist eine kritische Parodie auf das Begehren schwarzer Verkörperung seitens der weißen Bevölkerung. Konsequent begrenzt sich der Abend auf ein Mittel: Lipsyncing zu bereits existierenden Songs und Ausschnitten von Talkshows. Dies verleiht dem Abend eine große Leichtigkeit, obwohl einem immer wieder aufgrund der Absurdität der vorhandenen Aufnahmen das Lachen im Halse stecken bleibt. Bei ihr darf man in Zukunft gespannt sein auf das künstlerische Weiterdenken ihrer ursprünglich konzeptionellen Ideen.

Weiterverfolgen sollte man auch die Berliner Choreografin Sheena McGrandles. Sie zeigt die kleine bemerkenswert konsequente Arbeit „FIGURED“ als eine ständige Unterbrechung sich bewegender Körper. Ausgangspunkt ist eine reduzierte Sequenz von zehn Sekunden, die hyperbearbeitet und auf der Bühne über einen Zeitrahmen von 35 Minuten zerstückelt wird. Also: wie geht’s weiter?

Die absoluten Highlights der Tanzplattform sind schließlich die Stücke, die tatsächlich sehr tänzerisch und außersprachlich sind, sich auf ein ästhetisches Konzept beschränken und dies konsequent, feinfühlig und dramaturgisch gut gearbeitet durchführen. Sharon Eyals „Soul Chain“ mit der Kompanie von tanzmainz bietet eine hochenergetische und immersive Performance zu einem bassstarken, intensiven Elektro-Beat von Ori Lichtik. In beeindruckender Manier agiert die Kompanie als einheitliche Gruppe, in der trotzdem jeder*m Einzelnen individuelle Bewegungsmuster und Körperhaltungen zugeschrieben werden. Das Stück changiert stets zwischen Spannungsaufbau und -entladung, was auch im Publikum zu spüren ist: frenetischer Applaus. „Soul Chain“ bietet, was andere der ausgewählten Produktionen vermissen lassen: keinen Halt vor Emotionen zu machen, mitreißend zu sein.

Aber auch „Vis Motrix“, die Arbeit der Kompanie Cocoon Dance, die schon bei der Tanzplattform 2018 in Essen mit „Momentum“ eingeladen war, ist ein fein gearbeitetes und spannungsreiches Stück. In spinnenartigen Bewegungen, stets mit dem Rücken zum Boden geneigt, kämpfen die vier Tänzerinnen gegen die Schwerkraft. Eine unwirkliche Atmosphäre, die mit stetiger Steigerung eine immer größere Intensität erfährt.

Alles in Allem fällt das Fazit der 14. Tanzplattform durchwachsen aus. Viele Arbeiten leiden in der künstlerischen Umsetzung ihrer ambitionierten politischen Konzepte. Was oft fehlt, ist die persönliche Note, die Intimität und Emotion, das Mitreißende, die Virtuosität und vor allem auch die Herausforderung des Publikums. Das Fachpublikum allerdings diskutiert und diskursiviert die Produktionen und Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz mit großer Beteiligung trotz schlechten Wetters und Coronavirus-Warnungen in den zahlreichen Veranstaltungen im Rahmenprogramm dieser Plattform.

Positiv hervorzuheben ist auch, dass es JOINT ADVENTURES gelungen ist, neben bekannten freien Häusern für zeitgenössischen Tanz wie dem HochX und dem schwere reiter, die Münchner Kammerspiele und das Residenztheater als Spielstätten an Land zu ziehen. Dadurch und durch das ortsbezogene Rahmenprogramm gelingt es, München in all seiner Vielfalt zwischen subventionierten Theaterhäusern und freier Szene zu präsentieren.

Die Tanzplattform 2022 findet zum zweiten Mal in Berlin statt. Die Diskrepanz der letzten beiden Ausgaben macht jetzt schon gespannt auf die Ausrichtung in zwei Jahren.
 

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