Death means to stop dancing

The Aging Body in Dance. A Cross-Cultural Perspective herausgegeben von Nanako Nakajima und Gabriele Brandstetter

Die Publikation „The Aging Body in Dance. A Cross-Cultural Perspective” entfaltet eine längst fällige Revision der Unterscheidung zwischen funktionsfähigem TänzerInnenkörper und nicht mehr so leistungsfähigem.

Frankfurt, 07/08/2019

1970 publizierte Simone de Beauvoir ihr Werk über das Alter, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien. Wie schon in „Das andere Geschlecht“, in dem sie die Stellung der Frau untersuchte, entfaltet de Beauvoir auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Positionen alter Menschen ein dialektisches, existenzphilosophisches Modell, nach dem es die gesellschaftspolitischen Verhältnisse sind, die dem Menschen aufzwingen, auf welche Weise er gesehen und behandelt wird. „Um die Realität und die Bedeutung des Alters zu begreifen, ist es folglich unerläßlich, zu untersuchen, welchen Platz die Alten zugewiesen bekommen, welche Vorstellung man sich zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten von ihnen machte“, schreibt de Beauvoir. In ihrem Blick sind es die jüngeren Erwachsenen, die „aktiven Erwachsenen“, die – analog den Männern in Bezug auf die Frauen – den älteren und alten Menschen Platz, Entfaltungsmöglichkeiten und Anerkennung zuweisen. Maßstab sind die eigenen praktischen und ideologischen Interessen. Den Wert eines Menschen nach seiner Arbeitsfähigkeit zu beurteilen ist ein solches Interesse. Den Wert eines Menschen nach seinem jugendlichen Aussehen zu bemessen ein anderes. „Dance combines in a particularly volatile manner fundamental aesthetic, physical and cultural patterns and body techniques which determine a culture’s aesthetic and social concepts of beauty, agility and expressiveness“, schreiben Gabriele Brandstetter und Nanako Nakajima, die Herausgeberinnen des Bandes, in ihrer Einleitung.

Im Tanz konstituieren solche sozialen Konzepte in der Regel Unterscheidungen zwischen dem effizienten Körper – dem des (jungen) Tänzers – und dem ineffizient gewordenen Körper des (alten) Tänzers, der nicht mehr tanzt. Was hierzulande in der Regel mit etwa 40 Jahren zum Thema wird. Die 2017 erschienene Publikation „The Aging Body in Dance. A Cross-Cultural Perspective” entfaltet eine längst fällige Revision dieser Unterscheidung zwischen funktionsfähigem TänzerInnenkörper und nicht mehr so leistungsfähigem. Zwar gibt es herausragende Beispiele (und dazu begleitende Publikationen) gefeierter alter Tänzer und Tänzerinnen, Projekte, die sich dem „gray dancing“ widmen, interessante role models gemeinsamen Alterns wie im Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und ambitionierte Initiativen wie Dance On, um eine neue Sichtbarkeit für ältere Tänzerinnen und Tänzer zu ermöglichen. Aber es fehlt an Untersuchungen, die soziale Konzepte und mithin kulturelle Konstrukte des Alterns im Tanz nicht nur darlegen und/oder miteinander vergleichen, sondern auch konsequent aufeinander beziehen. In dem vorliegenden Sammelband gelingt dies, indem europäisch-US-amerikanische und japanische Konzepte der Triangulation von Bühnentanz – Alter – Leistungsfähigkeit konsequent entfaltet und befragt werden. Damit leistet der Band einen fundamentalen Beitrag zu Dance, Aging, Disability and Cross-Cultural Studies.

Nanako Nakajima promovierte über das Altern im Tanz am Zentrum für Bewegungsforschung an der FU Berlin, hielt Vorträge und veranstaltete Symposien zum Thema. In ihrem einleitenden Überblick über den Sammelband macht sie in gebotener Kürze mit verschiedenen Vorstellungen und Ausprägungen bekannt und hebt den fundamentalen Unterschied von europäisch-US-amerikanischer und japanischer Perspektive hervor: „For dancers in Japan, aging is considered a progression to a higher level of ability.“

Der Band ist in vier Teile gegliedert: Im ersten geht es um den älter werdenden Körper im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, und hier gibt – neben Texten von Ramsay Burt, Johannes Odenthal und Tamotsu Watanabe – Yvonne Rainer in ihrem eigens für diesen Band geschriebenen Text „The aching body in dance“ den fulminanten Auftakt. Sie liebe es, auf der Bühne zu sein, schreibt sie, auch wenn sie nicht länger „tanze“, um hinzuzufügen, dass der alternde Körper endlich auch zugelassen werden müsse zu dem heute völlig anerkannten und respektierten Universum, welches sie und ihre KollegInnen in den sechziger Jahren initiierten: „Silence, noise, walking, running, detritus – all undermindes prevailing standards of monumentality, beauty, grace, professionalism, and the heroic.“

Der zweite Teil widmet sich „Alternative danceability. Dis/ability and Euro-American performance”. Jess Curtis reflektiert über zwei Stücke, in denen „embodied differences and their impact on what a body can do in the world” zentral sind, Kaite O Reilly schreibt über disabled dance generell und Arbeit mit tauben Menschen im Besonderen. Susanne Foellmer analysiert Marie Chouinards boDY-rEMIX und Romeo Castelluccis Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (On the concept of Face, Regarding the son of God). Eröffnet wird dieser Teil von Ann Cooper Albrights Beitrag „The perverse satisfaction of gravitiy“. Anknüpfend an ihr Konzept der „hegemony of the vertical“, analysiert sie Kritiken, die über Vorstellungen wie die von Candoco geschrieben wurden und diskriminieren, was sie eigentlich positiv betonen wollen.

Im dritten Teil, „Aging and body politics in contemporary dance“, berichtet Petra Kuppers über ihre Erfahrungen mit Alter und Community Dance, Janice Ross untersucht Anna Halprins „Song of Songs“, in dem die Choreografin erotische Zeichnungen ihres verstorbenen Mannes, die er als junger Mann verfertigt hatte, zum Zentrum ihres Stücks macht, und festhält: „Through a detour into her archive of dance processes, Halprin uses the framework of self-portraiture to create a posthumous collaboration with Lawrence, staging the artifacts of his private erotic sketches as a way to make memory at the end of life legible.“ Und Kikuko Toyama wechselt auf erhellende und notwendige Weise die Perspektive, wenn sie in ihrem Beitrag „Old, weak, and invalid. Dance in inaction” betont: „My focus in this chapter, therefore, is what aging can do for dancing, rather than what dancing can do for aging.”

Der kürzeste, letzte Teil umfasst zwei Beiträge: Mark Franko beschäftigt sich mit den Hand- und Armtänzen der hochbetagten Martha Graham und von Merce Cunningham. Nanako Nakajima beschreibt eine Lecture Performance von Yoshito Ohno, dem Sohn von Kazuo Ohno. Der bedeuteten – im Alter von beinahe 80 Jahren – Bühne und Alltag keinen Unterschied mehr. „The process of aging is an essential part of dance aesthetics in Japan. When dance becomes one’s whole life, one is free even from his or her own living. So, in the very literal sense, death means to stop dancing“, heißt es in der Einleitung dieses unbedingt lesenswerten Buches in Referenz zu Kazuo Ohno, der mit 103 Jahren verstarb. Mit 100 tanzte er seine letzte Vorstellung.

Nanako Nakajima / Gabriele Brandstetter (Hg.): The Aging Body in Dance. A Cross-Cultural Perspective, London und New York 2017 (Routledge, ISBD 978-1-138-20006-7

 

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