„Die sieben Todsünden“ von Peaches. Tanz: Josephine Köhler und Peaches

„Die sieben Todsünden“ von Peaches. Tanz: Josephine Köhler und Peaches

Die unbeantwortete Frage

Neue Produktion am Staatstheater Stuttgart

Was kann der Brecht dafür, dass er ein Mann war? In Stuttgart wird das Ballett „Die sieben Todsünden“ mit einer Show von Peaches kräftig aufgemischt. Das soll provozieren. Es endet bei Brecht, in der Kleinbürgerlichkeit.

Stuttgart, 04/02/2019

„Die sieben Todsünden“, das Ballett mit Gesang in sieben Bildern mit dem Text von Bertolt Brecht und der Musik von Kurt Weill, wurde in der Choreografie von George Balanchine in der Ausstattung von Caspar Neher 1933 in Paris uraufgeführt. Später veränderte Brecht den Titel, „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“. Für die neue Produktion des Staatstheaters Stuttgart in einer Koproduktion von Oper, Ballett und Schauspiel gab es noch eine Erweiterung. Im zweiten Teil des ansonsten zu kurzen Abends, sind es jetzt die sieben himmlischen Sünden - „Seven heavenly sins“ - und das ist eine performative Show der kanadischen Sängerin Peaches.

Seit gut 20 Jahren zelebriert sie, so der Programmzettel des Abends, „queer-feministische Lebensweisen“. Dass es auch hier einen nicht zu übersehenden und nicht zu überhörenden Abnutzungseffekt gibt, war jetzt in Stuttgart leider offensichtlich. Wirklich komisch, dass gerade der ideologische Kraftakt der Elektro-Clash-Sängerin Peaches - die aus dem Bühnenhimmel auf die Bretter der Weltbedeutung herabfährt, mit den eigenen noch fünf künstliche Brüste schaukelt, in einem aufgeblasenen Riesenpenis agiert, die Vagina mit einer leuchtenden Neonröhre ziert, immer wieder von Mösen, Schwänzen, Schlitzen, Ärschen und Analverkehr singt - am Ende doch so ermüdend, kraftlos und vor allem so belehrend wirkt. Willkommen in der neuen Kleinbürgerlichkeit der Kunst.

Wenn Brecht in seiner Kritik des Ausbeutungssystems ganz gerne mal den Zeigefinger erhob, dann ist es jetzt die Faust der Sängerin Peaches, die schon mal zur Keule wird und auch so gut wie nichts und niemand neben sich duldet. Die Schauspielerin Josephine Köhler und der Tänzer Louis Stiens dürfen illustrierend assistieren, mehr nicht, sei es mit übergroßen, vaginalen Fratzenmasken oder in unfreiwilliger Verklemmtheit, wenn sie sich auf das Podium des Tabledances begeben müssen. Es ist, als hätte hier, bei diesem herrschsüchtigen Kraftakt der Protagonistin Peaches, die Regisseurin des Abends, Anna-Sophie Mahler, sich verabschiedet und sei selbst den strukturellen Zwängen der von ihr herbeigerufenen Geister unterlegen. Und das ist schade.

Denn zuvor, aber das steht bald nur noch im Schatten, hatte sie überzeugend - ja, und auch berührend, in ihrer Art, einen Monolog mit Josephine Köhler zu inszenieren - wesentliche Akzente gesetzt. Nach dem „Ballett“ reflektiert nämlich sie als Anna in einer Art Hommage an die Frauen die Tatsache, dass weder Mann noch Frau, nicht unterdrückt geboren werden, sondern - ganz im Sinne Brechts - es die Umstände und Verhältnisse sind, die Menschen in die Unterdrückung führen. Und das ist die Größe des Hauptgedankens der Regisseurin und ihrer Dramaturgin Katinka Deecke, mögen die „Todsünden“ als Symbole religiös institutionalisierter Machtmechanismen der Einschüchterung vielleicht an Kraft der Unterdrückung verloren haben und sich sogar in ihr Gegenteil, in himmlische Visionen gendergerechter, lustvoller Selbstbestimmung, verwandelt haben. Die Erkenntnis dessen ist eine Sache, die existenzielle Annahme und Verwirklichung eine ganz andere.

Und da gibt es große Momente für die Schauspielerin Josephine Köhler. Wenn sie in ihrer Art der Reflexion buchstäblich auf der Kante sitzt, am Rande dieses brecht'schen Boxringes, auf dem sie zuvor ihre sieben Todsündenkämpfe durchlebt hat, und jetzt, immer wieder nach mitunter verzweifelten Ansätzen, endlich den Absprung wagt, mit beiden Beinen auf dem Boden steht, immerhin auf Bühnenbrettern, aber die sollen ja die Welt bedeuten. Und auf diesen Brettern, im Boxring, nicht gerade eine so total originelle Idee der Bühnenbildnerin Katrin Coonen, und in den Kostümen von Marysol Le Mindu vollziehen sich die Stationen der sieben Todsünden: Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid. Als Anna I, die Verkäuferin, und Anna II, die Ware, von der Familie auf den Weg durch die Städte geschickt wird, um sich zu verkaufen und das Geld zu beschaffen, für das kleine, sündenfreie Haus in Louisiana.

Dass diese Familie nur von Männern gespielt und gesungen wird, verweist deutlich auf die Doppelmoral familiärer Mechanismen schamloser Ausbeutung. In dieser Inszenierung gibt es die Anna in vierfacher Gestalt, Peaches singt die meisten der Monologe, die Tänzerin Melinda Witham geistert immer wieder durch die Szene, der Tanz bleibt Josephine Köhler, die als Schauspielerin auch von starker tänzerischer Präsenz ist, und dem Tänzer Louis Stiens vorbehalten.

Stiens verantwortet auch die Choreografie, in der er die ohnehin vorhandenen tänzerischen Assoziationen des Boxkampfes aufnimmt und bis in die abstrakte Form assoziativer Bewegungssprache führt. Zudem beweist er ein hohes Maß an Musikalität in der Ausdeutung der rhythmischen Vorgaben von Kurt Weill, der mit musikalischen Formen - wie Tarantella, Foxtrott, Marsch oder Walzer - in die Milieus damaliger Unterhaltungs- und Vergnügungsrevuen führte. Musikalisch wird dieser Lebens- und Überlebenstanz nicht nur klanglich, auch optisch gerahmt von den Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart, die den Boxring unter der Leitung von Stefan Schreiber umspielen.

Am Ende wirft dieser Abend mit seinen absichtsvollen Entlarvungen sündiger Unterdrückungsmechanismen und seinen widerständigen Provokationen des Aufschreis immerhin etliche Fragen auf, beantworten lassen sie sich nicht. So ist es vielleicht mehr als ein Zeichen, eher ein ästhetisches Signal, dass am Ende aus der Ferne Klänge von Charles Ives erklingen aus „The Unanswered Question“. Dazu zitiert in sensibler, tänzerischer Zerbrechlichkeit Melinda Witham, die sich mit dieser Produktion als Tänzerin verabschiedet, Anklänge an die Versuche, vornehmlich weiblicher Selbstbestimmung körperlicher Ausdrucksweisen des deutschen Ausdruckstanzes. Wichtige Vertreterinnen dieser Kunst des Aufbruchs, wie Gret Palucca oder Mary Wigman, waren dennoch nicht davor gefeit, autoritären, männlichen, braunen Strukturen zumindest gewisse Sympathien entgegen zu bringen. Die Nachwelt hat ihnen verziehen. Sollten da nicht auch den Schöpfern des Balletts „Die sieben Todsünden“, Bertolt Brecht und Kurt Weill, verziehen werden, dass sie von Geburt an eben männlichen Geschlechts, und dazu noch weiß und heterosexuell waren?
 

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