„1980 - Ein Stück von Pina Bausch“

„1980 - Ein Stück von Pina Bausch“

Spiegel der Gesellschaft

„1980 – ein Stück von Pina Bausch“ in der Hamburger Kampnagelfabrik

Die Wiederaufnahme ist nach fast 40 Jahren aktuell und beeindruckend wie eh und je. Umso mehr, wenn so hervorragend getanzt wird wie in dieser neuen Besetzung.

Hamburg, 27/01/2019

Das Tanztheater Wuppertal immer wieder nach Hamburg einzuladen, gehört zu den von der Kampnagelfabrikintendanz gepflegten schönen Traditionen – was dieses Jahr umso erfreulicher ist, als sich 2019 der Todestag Pina Bauschs zum zehnten Mal jähren wird (sie starb am 30. Juni 2009). Wie zeitgemäß und aktuell ihre Arbeit immer noch wirkt, auch wenn sie schon fast 40 Jahre alt ist, wurde jetzt in der Kampnagelfabrik beim Gastspiel des Tanztheaters Wuppertal mit „1980 – ein Stück von Pina Bausch“ augenfällig deutlich.

Der gesamte, weit nach hinten geöffnete Bühnenboden ist eine Wiese aus grünem Rollrasen, „sechs Küsse breit“, wie die Tänzerin Ditta Miranda Jasjfi später im Stück kundtun wird. Rechts und links an den Seitenrändern reihen sich große Scheinwerfer. Von ferne grüßt scheu ein ausgestopftes Reh. Zwei Mülleimer, eine betagte Aufnahmekamera, ein Röhrenfernseher. Basta. Viel Raum also für das 18-köpfige Ensemble von sieben Männern und elf Frauen. Dreieinhalb Stunden plus eine Pause soll das Stück dauern, verkündet die Abendaufsicht beim Einlass – oh Schreck! So lang?? Um es vorwegzunehmen: Es werden mit die kurzweiligsten Theaterstunden, die ich je erlebt habe.

Los geht’s mit vier Bühnenarbeitern. Sie tragen gemächlich ein großes Podest herein. Ein Mann im dunklen Anzug, eine Suppenterrine unterm Arm, trägt einen Stuhl herein und setzt sich auf dem Podest vor ein Mikrofon. Bedächtig rührt er in der Suppenschüssel, vorsichtig schlürft er den Brei vom Löffel: „Ein Löffelchen für Mama.“ Nochmal rühren. „Ein Löffelchen für Papa.“ Und so weiter. Plötzlich setzt Swing-Musik der 1930er Jahre ein – Benny Goodman, die Wiedergabe klingt kratzig, wie aus einem alten Grammophon. Und nun treten sie wie bei einer Revue hintereinander aufgereiht aus der ersten Gasse links, die Tänzerinnen und Tänzer: in feinem Zeug, fließender Seide, duftigem Chiffon, glänzendem Satin, eleganten dunklen Anzügen, sorgfältig frisiert und geschminkt. Im Takt der Musik schlängeln sie eine hinreißende Polonaise über die Zuschauertribüne, die Köpfe hocherhoben, den Blick freundlich-gelangweilt dem Publikum zugewandt. Die Arme zaubern dabei synchron eine flinke Bewegungsfolge, wie sie so charmant nur Pina Bausch zu komponieren vermochte. Mit dem Ende der Musik verschwinden sie wieder in der Gasse. Eine der Tänzerinnen bleibt, setzt sich auf einen Stuhl und schnipst ein Feuerzeug an. Sie singt „Happy Birthday to me ...“, bläst die Flamme aus und zählt „One“. Das wiederholt sich noch viermal, bis sie bei „Four“ gelandet ist, dann steht sie auf und verschwindet wieder.

Und so folgt ein Tableau nach dem nächsten, mal als Solo, mal als Paar, mal in anderer Formation. Sie spiegeln schlaglichtartig eine Gesellschaft, die auch zehn Jahre nach der Studentenbewegung und den stürmischen Veränderungen im Lauf der 1970er Jahre immer noch in der Spießigkeit verharrt, sich noch nicht freigeschwommen hat aus alten Zwängen und Gewohnheiten. Kindheitserinnerungen werden wach (die Angst vor der Dunkelheit, „ich bin müde“, „ich möchte nach Hause“), familiäre Rituale, Sehnsüchte, Ängste. Die Zweideutigkeit mehr oder weniger aufrichtig gemeinter Abschiedsfloskeln („beehren Sie uns bald wieder“, „mach’s gut“, „pass gut auf Dich auf“, „wie schade, dass Sie nicht noch bleiben können“).

Oder auch die hinreißende Einlage von Silja Bächli als pöbelige Göre in dunkelgrüner, viel zu großer Lederjacke und abgeklebten Zahnlücken, die immer wieder in Begeisterungsrufe ausbricht: „Das Gras ist so grün – HERRLICH!“ Oder die Verhohnepiepelung eines Schönheitswettbewerbs (1980 gab es noch Miss-Wahlen!), bei dem sich alle in einer Reihe aufstellen und darum konkurrieren, wer die schönsten Beine hat. Das Erniedrigende daran wird noch augenfälliger, als jede/r aus einer Flasche nassgespritzt wird, als würde sie/er angespuckt. Und ebenso schamlos entwürdigend mutet es an, wenn Silja Bächli die Reihe entlangschreitet, mit erstaunlicher Kunstfertigkeit einen Zungenbrecher runterraspelt, den eine/r nach der/dem anderen wiederholen soll, woran natürlich jede/r mit Grandezza scheitert. Höchst makaber auch die Frage „Wie viele Narben haben Sie und wo?“: Da wetteifern dann drei Bewerberinnen um den ersten Platz für die schlimmsten Blessuren. Auch so kann man das Streben nach äußerer Perfektion und Schönheit ad absurdum führen.

Einer der Höhepunkte ist sicher das Stelldichein der ganzen Truppe zum gemeinsamen Sonnenbad zur Musik von „Somewhere over the Rainbow“. Einer der Tänzer legt sich bäuchlings ins Gras, zieht sich die Hose runter und bedeckt dann Ober- und Unterkörper mit braunen Wolldecken, bis nur noch der blanke Po rausguckt (wie die Männer überhaupt auffallend häufig die Hosen runterlassen, wobei das für die 1980er Jahre typische, jede Erotik tötende Schießer-Feinripp zum Vorschein kommt). Eine Frau (die auch in anderen Rollen absolut hinreißende Julie Shanahan) drapiert sich dekorativ mit Sonnenbrille im Gras, um sich kurz darauf unter einem Sonnenschirm so in ein großes weißes Tuch zu hüllen, dass kein Fleckchen Haut mehr rausguckt. Ein anderer schiebt sich die Unterhose so hin, dass sie möglichst viel Bein frei lässt. Und so weiter, und so weiter – man weiß gar nicht, wohin zuerst schauen bei so viel Kuriosität, die nur allzu dicht am echten Geschehen bleibt, wie es im Sommer allerorten in Freibädern und Parks zu erleben ist.

Es sind gerade die vielen kleinen Szenen, die so anschaulich die Gesellschaft spiegeln, auch mit Fragen wie „Wovor haben Sie Angst?“. Oder wenn jede/r ihr/sein Land mit drei Begriffen kennzeichnen soll, die sie/er lauthals ins Mikro brüllt. Das ist so irrwitzig komisch und gleichzeitig wahr, dass es einen kalt überrieselt: „Schäferhund, Rucksack, Skat“; „Flamenco, Torreros, Picasso“; „Adenauer, Beckenbauer, Schopenhauer“; „Geisha, Honda, Harakiri“; „Schrebergarten, Bockwurst, Faust“ ...

Was auch für die großartige kleine Teestunde gilt, bei der Silja Bächli und Scott Jennings gepflegte Langeweile zelebrieren und – very british – immer wieder in verschiedenen Tonlagen nur „Oh Dear!“ ausstoßen. Solche kleinen Kabinettsstückchen wechseln sich ab mit groß inszenierten Ensembles, bei denen mitunter allerlei Schabernack getrieben wird: Wer schafft es, die Götterspeise-Geleeküchlein am höchsten vom Teller zu katapultieren?

Es wird relativ wenig getanzt in diesem Stück, zwischendurch wird ein bisschen gezaubert (Rainer Roth) oder geturnt (Peter Sandhoff am Barren), und doch ist das alles sehr tänzerisch inszeniert und präsentiert, atmet das ganze Stück eine tiefgründige, melancholische Poesie. Was auch für die Musikzusammenstellung gilt, die von John Dowland über Edward Elgar, Johannes Brahms, Claude Debussy, Ludwig van Beethoven bis zu den Comedian Harmonists und Benny Goodman reicht.

Pina Bausch hat in diesem Stück auch den viel zu frühen Tod ihres Lebenspartners Rolf Borzik verarbeitet, der das Bühnenbild mit geprägt hat (Peter Pabst hat es später in Kooperation mit Alex Eales, Dimitris Papaioannou und Tina Tzoka vollendet), aber fünf Monate vor der Uraufführung an Leukämie starb. Und so ist vor allem die Schlussszene eine bewegende Huldigung: Wie eine in Stein gegossene Statue steht die Südkoreanerin Nayoung Kim vor dem ganzen Ensemble. Aufrecht. Gerade. Gesammelt. In sich ruhend. Still. Kurz löst sich Fernando Suels Mendoza aus der Gruppe, geht ein paar Schritte nach hinten und ruft: „Ist da jemand?“, um sich dann still wieder in die Gruppe einzureihen. Leise klingt lyrische Musik von John Dowland aus den Lautsprechern. Es ist ein Verharren in Ehrfurcht. Vor dem Leben. Vor den Toten. Vor dem Sein. Einen besseren, stimmigeren und respektvolleren Schluss kann man sich nicht vorstellen. Noch stundenlang klingt das ganze Stück nach, besetzt es die Träume, bewegt es im Tag. Danke, Pina Bausch.
 

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