„Carmen“ von Johan Inger, Tanz: Alba Carbonell Castillo und Anthony Ramiandrisoa

Liebeswahn, Eifersucht, Gewalt

Johan Ingers einfallsreich-eigenwillige „Carmen“ beim Ballett Basel

Inger stützt sich auf Rodion K. Schtschedrins „Carmen“-Suite, eine Variation zu Bizets Opernmusik. Und erfindet neue Figuren: Ein Kind sowie unheimliche schwarze Gesellen.

Basel, 18/11/2018

Johan Inger, gebürtiger Schwede und wohnhaft in Spanien, brachte vor drei Jahren in Madrid ein Aufsehen erregendes „Carmen“-Ballett mit der Compañia Nacional de Danca zur Uraufführung. Inzwischen haben auch andere Theater ein begehrliches Auge auf diese Produktion geworfen. So tanzt „Carmen“ seit November 2018 auf der Großen Bühne des Theater Basel. Letztes Jahr hatte Inger mit dem Basler Ballett als Gastchoreograf den Abendfüller „Peer Gynt“ kreiert.

Woher stammt „Carmen“? Zunächst aus Prosper Merimées gleichnamiger Novelle (1847), dann aus Georges Bizets Oper (1875). Diese wunderbare Musik liegt den meisten der „Carmen“-Ballette zugrunde, die seither zahlreich entstanden sind. Auch Ingers Ballett geht von Bizets Musik aus. Allerdings nicht original, sondern in der Version des Russen Rodion K. Schtschedrin: Seine „Carmen“-Suite komponierte er für seine Frau Maja Plissezkaja, die große Primaballerina des Bolschoi-Theaters in Moskau. Die damalige Uraufführung (1967) choreografierte Alberto Alonso, getanzt wurde im „Oststaaten-Neoklassik“-Stil. Die Musik soll damals als ziemlich kakofonisch empfunden worden sein.

Das ist inzwischen anders. Schtschedrins „Carmen“-Suite tut den Ohren nicht mehr weh. Mit ihren verschobenen Rhythmen und Akzenten klingt sie einerseits vertraut, anderseits angenehm verwirrend. Im Orchester spielen lediglich Streicher und Perkussionisten auf teils ausgefallenen Instrumenten, bis hin zu Kuhglocken. Das Sinfonieorchester Basel spielt unter Thomas Herzog die Komposition mit Engagement, Präzision und einer gewissen Ironie.

Und der Tanz? Inger verzichtet in seiner „Carmen“ auf typisch spanisches Flair. Keine iberische Folklore, kein Zigeunerlager, keine Leidenschaft unter brennender Sonne. Die Atmosphäre wirkt eher nördlich als südlich. Carmen ist eine junge Fabrikarbeiterin wie andere auch, klein und schmal, wenn auch ein Stück selbstbewusster und lasziver als die Kolleginnen. Alle tragen kurze Volant-Röckchen, in zurückhaltenden Farben. Nur Carmens Kleid ist feuerrot.

Debora Maiques Marin als Carmen tanzt kokett-agil, wenn auch nie auf Spitze. Ohnehin verzichtet Inger fast ganz auf klassische Elemente. Maiques Marin irrlichtert leichtfüßig zwischen ihren Verehrern herum. Sie beherrscht ihren Part, auch wenn dieser mal sperrig und eckig wird. Als wärs von Ingers Freund und Landsmann Mats Ek, dessen eigene „Carmen“ schon 1992 entstand.

Die spannendste Figur in Ingers Ballett ist jedoch nicht Carmen, sondern ihr unglücklicher Liebhaber Don José. Verzweifelt erschießt er am Ende des 1. Aktes den Rivalen und einstigen Vorgesetzten Zúñiga (Piran Scott) – ein Mord, der in der Oper so nicht vorkommt. Auch nicht bei Prosper Mérimée, wo José dafür zwei andere Männer tötet. Im 2. Akt ersticht Don José die treulose Geliebte, die sich inzwischen mit dem eitlen Stierkämpfer (Javier Rodríguez Cobos) eingelassen hat.

Don José ist bei Inger kein naiver Soldat vom Land, sondern eher ein nervöser Städter, den bisher unbekannte Leidenschaften überwältigen. Max Zachrisson tanzt seine Rolle dynamisch und facettenreich. Er überzeugt auch in den Zusatzszenen, die der Choreograf für ihn erfunden hat: im Glückstaumel unter gelben Blütenblättern, die vom Himmel fallen, nachdem ihm Carmen eine Blume zugeworfen hat. Oder bei der irren Flucht ins Unbekannte, von schwarzen Gestalten verfolgt, nach dem Mord an Zúñiga.

Wer sind diese unheimlichen schwarzen Gesellen, die nicht nur Don José jagen, sondern auch anderweitig Schrecken verbreiten und im 2. Akt wie Tiere über die Bühne walzen? Gewaltsymbole, Gewissensdämonen, Eifersuchtsvampire, Todesboten? Man kann all dies in ihnen sehen. Wann immer sie auf der Bühne auftauchen, verfinstert sich die Welt. Die Freude erlischt.

Neben den Dämonen hat Inger auch ein Kind erfunden, das zuerst harmlos mit dem Ball spielt, dann aber von der rundum herrschenden Gewalt verdorben wird. Im ersten Akt noch weiß gekleidet, trägt es im zweiten Schwarz. Es zerreißt seine Carmenpuppe, nachdem die wirkliche schon tot ist, brutal in Stücke. Eine gute Idee. Warum aber hat der Choreograf, der dieses Wesen ausdrücklich als „Kind“ bezeichnet, es in Basel mit einer erwachsenen Tänzerin besetzt? Das schmälert die Wirkung dieser Rolle gewaltig, auch wenn sie von Alba Carbonell Castillo einfühlsam-profiliert getanzt wird.

Eine Neuerung auch in der Musik: Zwischen den Sätzen der Schtschedrin-Suite erklingen ab Tonträger schwere, oft brutale Klangfolgen, die der Spanier Marc Alvarez in Zusammenarbeit mit Inger komponiert hat. Sie spiegeln Vorgänge im Innern der Figuren, vor allem Don Josés. Ein gewollter Bruch mit den Hörerwartungen des Publikums, wie ihn heute oft auch andere Choreografen einsetzen.

Kostüme (David Delfin) und Bühnenbild (Curt Allen Wilmer) entsprechen der Ausstattung, die Inger bei der Uraufführung seiner „Carmen“ in Madrid verwendete. Sie sind in kühlen Farben und Formen gehalten. Wilmer beschränkt sich auf Stellwände, die sich blitzschnell vom Fabrikhof zum Spiegelsalon zum Wald verschieben lassen. Großartig. Und das Basler Premierenpublikum, schon immer Applaus freudig, bejubelte auch diese „Carmen“. Zu Recht.

 

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