„Die vier Temperamente“ von George Balanchine, Tanz: Gareth Haw, Alejandro Martínez, Alice Mariani, Thomas Bieszka, Denis Veginy

Auf Wanderschaft

„Labyrinth“: Erste Premiere in der Saison 18/19 beim Semperoper Ballett

Auf „Die vier Temperamente“ von George Balanchine folgen Stücke von Martha Graham, Ohad Naharin und Joseph Hernandez. Das Licht des Anfangs lässt sich aber nicht verdunkeln.

Dresden, 06/11/2018

Vor knapp zehn Jahren gab es in der amerikanischen Tanzwelt eine Diskussion, ausgelöst durch die Frage „Are We Overdosing Balanchine?“, gedruckt auf der Titelseite der Zeitschrift „Dance Magazine“. Grund hierfür war, dass kurz zuvor in der „Washington Post“ die Überlastigkeit von Balanchine-Balletten beklagt worden war. Damals verwies der Ballettkritiker Horst Koegler in seinem Koeglerjournal, wie diese Debatte das Für und Wider beschreibe.

Interessant in der Diskussion ist die Meinung von Karen Kain, damalige Chefin des National Ballet of Canada, die, so Koegler, zweifellos zu den führenden Persönlichkeiten der nordamerikanischen Szene gehöre. Sie verweist auf die Reichhaltigkeit des Repertoires der damals von ihr geleiteten Kompanie und auf die lange Tradition an dramatischen Balletten, Klassikern und zeitgenössischen Werken, die man habe. Und sie betont, „wir haben Künstler, die tanzen und schauspielern können – kein Zweifel. Wir tanzen auch Balanchine, weil er Meisterwerke schuf. Wenn man nicht Balanchine gut tanzen kann, kann man sich nicht wirklich eine Ballettkompanie nennen.“ Wichtig erscheint dabei, dass sie dies vor allem auf die Choreografien ihrer Kompanie bezieht, die von Choreografen kreiert wurden, die ganz eindeutig nicht unter dem Einfluss von Balanchine stehen, deren Erfolg und Präsenz es allerdings zugutekommt, dass die Tänzerinnen und Tänzer sich gut in den Techniken und Ansprüchen, vor allem auch in der Musikalität Balanchines, auskennen.

Das muss wohl – und damit sind wir in der Gegenwart angekommen bei der aktuellen Premiere des vierteiligen Abends mit dem Semperoper Ballett – Aaron S. Watkin als künstlerischer Direktor der Kompanie ähnlich sehen. Inzwischen hat er (zum Glück!) etliche wichtige Arbeiten von Balanchine erstmals in Dresden einstudieren lassen.

Oft fügten sich dann in mehrteiligen Abenden die nachfolgenden Choreografien auf diesem so herrlich schwingenden Fundament zu einem Ganzen, in dem der Tanz mit seinen so unterschiedlichen Stilen und Anliegen einen Horizont der Erwartungen nach dem anderen durchbrach. Zuletzt im Abend „Vergessenes Land“, in dem Jiří Kyliáns gleichnamige Kreation von 1981 zu Benjamin Brittens „Sinfonia da Requiem“ auf „Sinfonie in C“ zum Jugendwerk von Georges Bizet folgte, also ein Werk mit diesen nachdenklichen Tönen und Bilder suchender Menschen in den melancholischen Bildlandschaften eines Edvard Munch auf Balanchines Meisterwerk der Lebensfreude. So schloss sich am Ende zwar kein Kreis, aber es erschloss sich mit William Forsythes Meisterwerk „Quintett“ von 1993 doch so etwas wie ein Lebenskreislauf des Tanzes, bei dem am Ende auch angesichts persönlicher Tragik und Trauer, die Forsythe in diesem Stück verarbeitet, doch die lebensbejahende Kraft des Beginns nicht verloren ist.

Stellt sich die Frage, ob Aaron S. Watkin mit dem neuen Abend ein solches Konzept weiterführen wollte, denn unter dem Motto „Labyrinth“ zeigt er neben drei anderen Stücken von Martha Graham, Ohad Naharin und Joseph Hernandez mit „Die vier Temperamente“ auch ein Meisterwerk von Balanchine zur Musik von Paul Hindemith.

Uraufgeführt 1946 in New York, kann man sich auch nach mehr als 70 Jahren an diesem Werk erfreuen, zumal, wenn Hindemiths Musik dermaßen frisch und anmutig erklingt wie hier unter der Leitung von Nathan Fifield mit den Streichern der Sächsischen Staatskapelle und dem Solisten Alfredo Miglionico am Klavier.

Und auch nach dem tänzerisch noch etwas verhalten wirkendem Thema bricht sich mit dem ersten Solo von Michael Tucker im ersten, der Melancholie gewidmeten Satz, dieses tänzerische Grundvertrauen in die Kraft der geführten Bewegung seine Bahnen.

Eine Steigerung gibt es mit Svetlana Gileva und Denis Veginy in ihren auch von leichtem Humor grundierten Varianten der Kunst des Pas de deux, wenn es um Facetten sanguinischer Temperamente geht. Von wegen „phlegmatisch“ – alles andere als dies – sind die Solovariationen im dritten Teil von Joseph Ray, und dann wird's mit Alice Mariani cholerisch, eben nicht, wie es im Buche steht, sondern frei von Klischees, mit einem wunderbaren Augenzwinkern.

Mit den unterschiedlichen Formationen des Ensembles und nicht zuletzt in der hier so elegant wirkenden Trainingskleidung auf leerer Bühne vor dem Hintergrund der in himmlischem Blau ausgeleuchteten Opera wird das Ganze zu einer getanzten Hommage, eben auf die unterschiedlichen Temperamente, die sich im Tanz dann doch in symmetrischen Visionen fügen.

Komisch, dass darauf ein Stück der amerikanischen Tänzerin und Choreografin Martha Graham, gern als Pionierin des modernen Tanzes in den USA verehrt, mit dem Titel „Errand into the Maze“ nur ein Jahr später, 1947 ebenfalls in New York uraufgeführt, so altbacken wirkt.

Da kann auch die rhythmisch interessante Musik von Gian Carlo Menotti mit bevorzugtem Schlagwerk und raffinierten Orchesterpassagen nicht viel möglich machen, die Choreografie der Martha Graham ist einfach zu naiv in ihren strengen, kantigen Vorgaben, bei denen besonders der Körper der Tänzerin in ein unglaubwürdig wirkendes Korsett geprägt wird.

Und das, wo sich doch die Amazonen des Modernen Tanzes auf ihre Fahnen geschrieben hatten, den Tanz vom Korsett des Balletts zu befreien. Komisch, dass noch wenige Minuten zuvor ein wesentlich frischerer Wind des Tanzes beim Ballett von Balanchine durch die Semperoper wehte.

Immerhin, Grahams Kreation führt wirklich in ein Labyrinth, das des mythischen Minotaurus, in dem sich Ariadne gegen das stiernackige Ungeheuer behauptet, weil sie eben klug ihren „Ariadnefaden“ zu nutzen weiß.

Duosi Zhu und Christian Bauch, vielfach in anderen Kreationen ganz unterschiedlicher Stilistik und Ansprüche überzeugend, können hier einfach nicht ankommen gegen die letztlich doch reichlich simpel wirkenden choreografischen Vorgaben.

Nicht ganz unproblematisch erscheint dann auch die Auswahl der Choreografie „Black Milk“ von Ohad Naharin aus dem Jahre 1984 zur Musik für Marimbaphon von Paul Smadbeck, zunächst für fünf Tänzerinnen kreiert, später aber, so auch in Dresden, für fünf Tänzer eingerichtet.

Zur schwingenden Melodik, die das Geschehen wie ein Klangteppich unterlegt, erlebt man so etwas wie ein tänzerisches Ritual einer Gruppe im Gegensatz zu einem Einzelnen. Statt schwarzer Milch gibt es schwarzen Schlamm in einem Blechbehälter, mit dem alle ihre nackten Oberkörper leicht anschmutzen. Nur einer der Tänzer wird im gleichen Blecheimer das klare Wasser finden, seinen Körper reinigen und seinen Weg gehen.

Natürlich haben die Tänzer Julian Amir Lacey, Skyler Maxey-Wert, Francesco Pio Ricci, Huston Thomas und Jón Vallejo die nötige Kraft und Energie hier zu begeistern und damit auch über die gewisse Unverbindlichkeit des Stückes hinaus zu wachsen.

Der kann man auch nicht begegnen, wenn man – wie im Programmheft der Dresdner Inszenierung – allein vom Titel her auf einen Zusammenhang zu Paul Celans »Todesfuge« verweisen möchte. 1944/1945 im Gedenken an die Opfer des Holocaust geschrieben, ist das Gedicht den Opfern jenes Todes gewidmet, der im Gedicht Celans, sprachlich komponiert in der literarischen Musikalität einer Fuge, „ein Meister aus Deutschland“ ist. Das in der benannten Fugenform wiederkehrende Motiv der „Schwarzen Milch“ in Paul Celans Gedicht lässt sich kaum mit möglichen Motiven des Choreografen verbinden, die er als „Black Milk“ bezeichnet.

Am Ende des doch mehr ungewollt labyrinthisch anmutenden Abends folgt eine Uraufführung. Das spricht für die Risikobereitschaft von Aaron S. Watkin, noch dazu, wenn er diese einem jungen Tänzer der Kompanie anvertraut, der sich auf diesem Gebiet zwar bewährt hat, aber bisher eher Insidern bekannt blieb.

„Songs for a Siren“ heißt die Choreografie von Joseph Hernandez zu einer Auftragskomposition von Barrett Anspach. Wie stark der junge Komponist bei spürbarem Interesse am Tanz seinem Komponistenkollegen Igor Stravinsky verbunden ist, kann man nicht überhören. Wie sehr der junge Choreograf daran interessiert ist, sich mit individuellen Unfreiheiten, vielleicht sogar Gefangenschaften in abgeschlossenen Ansichtsgebäuden, zu beschäftigen, ist auch nicht zu übersehen.

Szenisch spielt sich dies in einer ausweglosen Situation am Grunde einer übergroßen, trichterartigen Grabesgrube ab. Yannick Cosso und Jordan Pallagès haben diese Grube gebaut und die Kostüme für die zehn Tänzerinnen und Tänzer entworfen, die sich darin oder am Rand dieses Abgrundes bewegen.

Welchen Signalen sie gefolgt sind, welchen Sirenen sie auf den Leim gegangen sind, bleibt am Ende ein Geheimnis. Ob die geheimnisvolle Lady in Grün, getanzt von Svetlana Gileva, oder die beiden so gut wie unkenntlichen Typen in Schwarz, Sangeun Lee und Christian Bauch, sie angelockt, verführt oder gar über den Rand der Grube gezogen haben und sie jetzt bewachen, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die Frage danach, wie sich die sieben kraftvollen Menschen aus diesem existenziellen Loch, in das sie geraten sind, wieder befreien können.

Dem kräftigen Schuhwerk nach sind sie alle auf Wanderschaft. Abstürze gehören dazu, ebenso wie an die falschen Freunde oder Freundinnen zu geraten. Insofern bleibt es wohl der durch eigene Erfahrungen beflügelten Fantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer überlassen, die Wege aus der Grube zu erkunden.

So präsentiert dieser labyrinthische Ballett- und Tanzabend am Ende zwar nicht den idealen Ausweg, aber Anregungen und Anreize genug, um immer wieder mit Interesse und Lust dabei zu sein, wenn die nächste Einladung erfolgt, sich im Tanz durch die Labyrinthe des Lebens und der Emotionen führen zu lassen.

 

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