„Mayerling“ von Kenneth MacMillan, Tanz: Steven McRae als Prinz Rudolf

Very British Ballet

„Mayerling“ von Kenneth MacMillan als Liveübertragung

Liebe, Drogen, Schüsse, Alkohol und Sex: Mit "Mayerling" begann die 10. Saison der Liveübertragungen aus dem Royal Opera House in London. Das Ballett ist seit seiner Uraufführung vor 40 Jahren feste Größe im Repertoire und eine Herausforderung.

London, 16/10/2018

Keine Frage, das Royal Ballet in London ist eine der weltweit renommiertesten Kompanien. Das gilt natürlich auch für die Oper in Covent Garden. Seit zehn Jahren gibt es Liveübertragungen aus London, rund um die Welt, in dieser Saison, zum Jubiläum, sogar in über 100 Länder mit circa 1000 Übertragungen, 100 davon für die Fans in Deutschland: sechsmal Ballett, fünfmal Oper, zu Beginn mit „Mayerling“ von Kenneth McMillan.

Das Ballett ist seit seiner Uraufführung vor 40 Jahren feste Größe im Repertoire und eine enorme Herausforderung für den Tänzer der Hauptpartie, für Solistinnen und Solisten, für das Corps de ballet. Der Stoff hat es in sich. Auf Schloss Mayerling, in der Nähe von Wien, finden sich am Morgen des 30. Januar 1889 zwei Leichen. Es sind der Kronprinz und seine Geliebte Baroness Mary Vetsera. Zuerst hat er sie, dann sich selbst erschossen. Bald gibt es Legenden und Vermutungen: Hat Rudolfs Vater diesen Mord in Auftrag gegeben? Hatte der Kronprinz zu enge Verbindungen zu Vertretern ungarischer Unabhängigkeitsbestrebungen? War es der Lebenswandel dieses im Grunde einsamen Menschen, dem die Zuneigung der Mutter verwehrt blieb, den der Vater misstraute, der aus politischen Gründen eine belgische Prinzessin heiraten musste und sich exzessiv in Drogen, Alkohol und erotische Abenteuer flüchtete?

Ist das ein Stoff für's Ballett? Für einen Choreografen wie Kenneth MacMillan, dessen „Manon“ bis vor Kurzem auch in Dresden erfolgreich im Repertoire war, auf jeden Fall. Ihn reizten historische Stoffe und Persönlichkeiten wie dieser Kronprinz als schwermütiger Psychopath. Und wenn es dazu Tänzerinnen und Tänzer gibt, wie jene in der Londoner Kompanie, die bei grandioser Präzision dennoch Momente der Unvorhersehbarkeit haben, als käme jede Bewegung, jede Verschlingung der Körper, jede rasante Sturz- oder Hebefigur, direkt aus der Emotion des Augenblicks, dann kommt auch der Zuschauer aus dem Staunen nicht heraus.

Darum geht es auch Kevin O'Hare, Direktor des Königlichen Balletts, der im Gespräch sagt, dass dieses fantastische Erbe des einmaligen britischen Stils und der narrativen Kunst des Tanzes für ihn ein wesentlicher Ansporn sei, die Spielpläne zu gestalten. Er betont, dass im Dialog solcher Traditionen mit neuen Kreationen gegenwärtiger Choreografinnen und Choreografen, die Herausforderungen für die Tänzerinnen und Tänzer beständige Förderung bedeuten und für das Publikum so etwas wie genießendes Staunen mit Nachklang und Langzeitwirkung. Er verweist darauf, dass man in der letzten Saison weltweit mit den Übertragungen mehr als eine Million Menschen erreicht habe. Das sei für ihn eine großartige Möglichkeit, neue Interessenten für das Ballett und die Oper zu erreichen. Auf den Besuch der Vorstellungen im Opernhaus wirke sich das nicht negativ aus, im Gegenteil, das Interesse wachse. Zudem könne man mit den Kinoformaten auch Menschen erreichen, die sonst nicht ins Ballett oder in die Oper kommen, es vielleicht auch gar nicht könnten.

Da stellt sich natürlich die Frage, wie intensiv die Erfahrung bei einer Aufführung im Opernhaus und bei einer im Kino ist. Am Beispiel von „Mayerling“ – nach dem Besuch der Aufführung in London und wenige Tage darauf, in derselben Besetzung, in einem Dresdner Filmtheater – muss man zunächst ein großes Kompliment an das Team der Aufnahmetechnik mit dem Kinoregisseur Ross MacGibbon machen. Kaum zu glauben, auch wenn die Leinwandperspektiven sich schon sehr von denen im Theater unterscheiden, hat man dennoch nie den Eindruck einer Aufzeichnung beizuwohnen. Der Live-Charakter lässt sich übertragen.

Bei dieser Choreografie ermöglicht die auf der Leinwand hergestellte Nähe Momente einer anderen Art von Wahrnehmung, wie es die Zuschauerposition als Totale im Theater nicht zu vermitteln vermag. Einem Tänzer wie Steven McRae als Kronprinz Rudolf auf dem selbstmörderischen, unaufhaltsamen Weg seines Absturzes so nahe zu kommen, seinem Wahn in den Augen zu sehen, das ist erschütternd und wird durch das Live-Erlebnis im Kino möglich. Dagegen lassen Abstand und Entfernung im Theater noch etwas mehr vom eigenen Kopfkino und der individuellen Assoziationen zu.

Die Tänzerin Meaghan Grace Hinkis in der unglücklichen Rolle der ungeliebten Frau des Kronprinzen empfindet es regelrecht als surreal, sich auf der großen Leinwand zu sehen. Sie ist darüber erstaunt, dass sie während der Aufführung keinen Moment an die Kameras gedacht habe und dass diese von ihr empfundene Surrealität des Geschehens letztlich doch viel mit dem besonderen Stil dieses Balletts und ihrer Rolle zu tun haben, in der es auch die größte erfahrene Erniedrigung nicht vermag, ihre Faszination für den Menschen Rudolf zu erschüttern.

Damit wachsen Neugier und Spannung, wie es bei den weiteren Übertragungen sein wird, wenn wieder getanzt wird, nicht nur klassisch und neoklassisch, sondern zeitgenössisch, etwa mit einer Uraufführung von Sidi Larbi Cherkaoui, zusammen mit Kreationen von Crystal Pite und Christopher Wheeldon, bevor mit dem Ballett-Klassiker „Romeo und Julia“ im Juni dann die zehnte Saison der Liveübertragungen zu Ende gehen wird.

 

 

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