„Concerto for Flute and Harp“ von John Cranko, Tanz: Friedemann Vogel und Ensemble

Vielschichtiger Blick auf das Ballet Blanc

„Shades of White“ beim Stuttgarter Ballett

Fast drei Stunden genoss das Publikum ausschließlich Tanz auf Spitze, weiße Tütüs und Herren in Strumpfhose. Auf dem Programm standen Werke von Petipa, Balanchine und Cranko.

Stuttgart, 15/10/2018

Einen ungewohnten und doch zauberhaften Spielzeitauftakt gestaltete das Stuttgarter Ballett unter seinem neuen Intendanten Tamas Detrich mit dem Ballettabend „Shades of White“. Fast drei Stunden genoss das Publikum ausschließlich Tanz auf Spitze, weiße Tütüs und Herren in Strumpfhose. Reihen von Ballerinen und Ballerinoas, die geschlossen agieren, und Kavaliere, die ihre Ersten Solistinnen formvollendet halten, das gab es im Stuttgarter Opernhaus en masse meistens nur im Rahmen der Aufführungen von John Crankos „Schwanensee“-Version.

Der Schein trügt jedoch gewaltig, würde man in dem neuen Programm einen plötzlich rückwärtsgewandten Blick auf die Tanzkunst sehen. Nein, die von Detrich ausgewählten Werke thematisieren das Ballet Blanc in verschiedenen Ausprägungen, und das ist ziemlich spannend. Erfrischend lenkt der Abend so den Blick auf den Weg des Balletts hinein in die Abstraktion der Moderne. Darüber hinaus setzt er die noch unter Reid Anderson in der vergangenen Spielzeit begonnene kuratorische Linie fort, den Werkbereich der abstrakt-konzertanten Kreationen ihres Kompaniegründers John Cranko vorzustellen.

Denn nach „L´Estro Armonico“ zu Musik von Vivaldi vor rund einem Jahr tanzte die Kompanie jetzt herrlich frei von der Leber weg und mit gelöstem Grinsen, möchte man fast sagen, dessen Choreografie zu Mozarts „Konzert für Flöte und Harfe“ in C-Dur. Das spannende Reich des Unbewussten in der Geschichte des klassischen Balletts, die weißen Akte als Orte des Sublimen und der ins Ideal verdrängten romantischen Begegnung von Mann und Frau, repräsentierte schließlich der kühne Repertoire-Neuzugang „Das Königreich der Schatten“, jenen berühmten dritten Akt aus Marius Petipas „La Bayadère“ von 1900, den die legendäre Natalia Makarova erstmals 1974 beim American Ballet Theatre als Rekonstruktion eines bedeutenden russischen Tanzerbes herausgebracht hatte. Gleichwohl fiel dieser etwas aus der Reihe. Doch dazu später.

Crankos „Konzert für Flöte und Harfe“ wurde 1966 in Stuttgart uraufgeführt, und zwar als Vorspann zu Peter Wrights Version von „Giselle“. Dort waren im zweiten Akt so viele Tänzerinnen vonnöten, dass Cranko den unterbeschäftigen männlichen Kompaniemitgliedern ebenfalls Arbeit verschaffen wollte. Und so führten, rahmten und umsprangen in galantester Weise zehn Herren leichtfüßig die beiden Ersten Solistinnen Alicia Amatriain und Ami Morita. Vor allem die feine Haltung der Tänzer, mit der sie die virtuose, die Symmetrie auch immer wieder unterbrechende Choreografie der Linien, Reihen, Gruppen und Strukturen gestalteten, rührte. Und obwohl gerade Alicia Amatriain und Friedemann Vogel mittlerweile gemeinsam über eine so überwältigende, von innen strahlende Schönheit und Aura verfügen, wirken die beiden nie abgekoppelt von der Gemeinschaft, sondern zeigen sich tief verbunden mit den Kollegen. Crankos human-emotionaler Ansatz, sein Kompanie-Verständnis und letztlich der von ihm eingeschlagene Weg einer Psychologisierung des Balletts im 20. Jahrhundert zeigen sich auch hier.

Den stilistischen Unterschied sieht man im Vergleich zur ebenfalls aufgeführten „Symphony in C“ von George Balanchine aus dem Jahr 1947 nach Bizet. Fast herrschaftlich wirkt im Vergleich dazu das viersätzige, temperamentvolle, stellenweise fast groovig wirkende Werk, das sich seiner Herkunftsgeschichte nach an die Vorstellung von glänzenden Juwelen anlehnt. Dank ihres hohen dramatischen Darstellungspotenzials gelingt es der Stuttgarter Solistenriege, Timbre und Farbe jedes Satzes konturiert herauszuarbeiten.

Genau dieses Potenzial aber darf oder kann sich in Makarovas rekonstruiertem „Königreich der Schatten“ nicht entfalten. An keinem anderen Opernhaus würde das stören. In Stuttgart aber verstört es. Nicht viel. Aber doch ein wenig. Es ist, als ob die Kompanie ihr gelöstes Lächeln verliert. Sicher, der Auftritt der Bajaderen in der Kulisse einer Mondlandschaft betört. Die Wiederholung der immer selben Bewegungsfolge aus Schritt, Armführung, Arabesque gleicht einem Rausch an Schönheit. Und auch die auf den Punkt kommenden Auftritte von Elisa Badenes als Nikija und Adhonay Soares da Silva als Solor ermutigen das Publikum zu glühendem Zwischenapplaus. Was aber wäre, wenn dieses grandiose, von Makarova geborgene Erbe Petipas während des Vollzugs der Aufführung mit Crankos bzw. der Stuttgarter Herzenswärme, die Detrich zweifelsohne auszeichnet, in Verbindung gebracht werden würde? Mit diesem Gedanken verschwand man in die Nacht.

 

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