„Alice im Wunderland“ von Torsten Händler, Tanz: Stefan Kulhawec und Alexander Teutscher (hinten), Raffaele Scicchitano und Thomas Edward Hart (hinten)

Utopien tanzen

„Alice im Wunderland“ beim Ballett des Staatstheaters Cottbus

Torsten Händler geht mit seiner Choreografie von „Alice im Wunderland“ nach den Romanen von Lewis Carroll ganz eigene Wege.

Cottbus, 08/10/2018

Der Schauspieler sei ein Mensch, dem es gelungen ist, die Kindheit in die Tasche zu stecken und sie bis an sein Lebensende darin aufzubewahren, so der Theaterregisseur Max Reinhardt. Dass dies auch für Tänzerinnen und Tänzer gilt, für Menschen, ganz gleich wie alt sie sind, wenn sie es sich nur nicht versagen, diesen Erinnerungen an die Kindheit immer wieder freien Lauf zu lassen; und dass das Theater der Ort ist, wo diese Erinnerungen wie drehende Brummkreisel tanzen können, das erlebt man in der neuesten Produktion des nun endlich zur eigenständigen Sparte erhobenen Balletts des Staatstheaters in Cottbus.

Torsten Händler hat hier sein Tanzstück „Alice im Wunderland“ nach Lewis Carroll zur Uraufführung gebracht, und auch in der dritten Aufführung ist das Theater nahezu ausverkauft, und am Ende sind die großen und die kleinen, die jungen und die älteren Zuschauerinnen und Zuschauer begeistert über diese Reise in ein Wunderland, das dann doch gar nicht so weit entfernt ist, ja besser noch, eigentlich in die Welt der eigenen Träume, Wünsche, Irrungen und Wirrungen, auch verständlicher Ängste und deren Überwindungen führt.

Dass man dabei bereit sein muss, gewohnte Fahrpläne zu durchbrechen, die Uhren vor oder zurück zu stellen, das vermittelt schon die Stimme der Inspizientin, bevor im Theater das Licht verlischt und die Blicke auf die Bühne gehen, dorthin, wo wir so gerne über all das lächeln, was uns am Tage Verdruss bereitet, wo wir vielleicht auch mal mit einer verschämten Träne im Auge, im Schutz der Dunkelheit ein wenig mehr an Emotionen zulassen, als es der Alltag vermeintlich erlaubt. Wir sind nie zu alt um wieder ein Kind zu sein. Auch wenn es zunächst in Torsten Händlers Fassung, die nicht akribisch den Vorlagen folgt, sondern ganz bewusst – und das wiederum ganz im Sinne der Vorlage – eigene Wege einschlägt, die ins Wunderland führen, den Anschein hat, es sei doch nun ein für alle Mal vorbei mit der Kindheit.

Mandy Krügel ist zunächst Alice als alte Frau. Sie sammelt die vielen Brummkreisel auf der Vorbühne ein, zum Glück wird sie einen übersehen, und der wird sich am Ende noch tanzend im Kreise drehen, wenn wir das Wunderland-Theater längst verlassen haben, wenn sich der Vorhang geschlossen hat, die Lichter wieder angehen. Aber vorher begibt sie sich doch noch einmal in das Wunderland der Kindheit. Sie hat ihre Erinnerungen nicht in die Tasche gesteckt, dafür wohl in eine Kiste und schon ist es Alice, jetzt Venira Welijan als junges Mädchen, die sich unter diese Kiste begibt, deren Wände Jhonatan Arias Gomez als weißes Kaninchen aufklappt und somit plötzlich ein praktisches Vehikel der Alltäglichkeit mit seinen labyrinthisch bemalten Innenseiten zum Ort des Einstiegs in die Wunderwelten der Labyrinthe wird, durch die die Wege vom Kindsein über die Schwellen zum Einstieg in die Welten des Erwachsenwerdens führen.

Das ist der Stoff, aus dem die Träume, aus dem das Theater gemacht ist. Das ist der Stoff für den Tanz, für die Musik, mitunter auch für die Rätsel, die sich nicht auf Anhieb knacken lassen wie eine Nuss. Und schon fällt Alice in einen Traum. Beim Erwachen steht sie vor sechs Türen; mithilfe eines Zaubertranks gelangt sie dann in ihre neuen Welten. Die Bühne von Leonie Mohr und Hannes Hartmann zeigt jetzt an der Rückwand das große Labyrinth, die verworrenen Gänge, wie es eben so sein soll, im Kaninchenbau, bei dem selbst die schlauen Wesen, die sie angelegt haben, nicht immer auf Anhieb wieder die Wege heraus finden sollen.

Und da sind sie alle, Stefan Kulhawec und Alexander Teutscher als Diddeldei und Diddeldum wie dicke Wächter an der Schwelle zum Wunderland. Thomas Edward Hart ist die rauchende Raupe und Andrea Simeone die grinsende Katze. Pedro Gomez, Niko König, und Inmaculada Marín López sind der Märzhase, der Hutmacher und die Haselmaus. Da hat Alice nun genug zu tun, sich zu wundern, zu erschrecken, auch, wenn die lustigen Typen tanzen wie in einer kleinen Show, sich einzufügen, tanzen hilft, auch gegen Angst und vor allem gegen die Verklemmungen erzeugenden Ängste der Berührung. Und da wird es für Alice ja auch bald die entscheidende Begegnung geben im Wunderland-Labyrinth der Gefühle, wo die Situationen so schnell wechseln wie die Tänzerinnen und Tänzer ihre Rollen und Kostüme. Denn schon ist da dieses tanzende Quartett, Raffaele Scicchitano, wieder Thomas Edward Hart und Alexander Teutscher, als Karo-, Pik- und Kreuzbube. Und natürlich, jetzt ganz schlank und jünglingshaft, Stefan Kulhawec als Herzbube. Sein Herz trägt er auf der Brust, wenn er daraus ein kleines Herzchen löst und es Alice schenkt, dann beginnt der Tanz, ein wunderbares Duett, leicht und luftig, zart und hoffnungsvoll, Alice im Wunderland des Tanzes. Aber natürlich kommt es noch ganz dick und ganz gefährlich: Auftritt der Herzkönigin mit Denise Ruddock als Henker im Gefolge. Das lässt nichts Gutes hoffen. Oder doch? Tanzen hilft, Humor auch, etwas Ironie erst recht. Denn tanzt Andrea Simeone nicht letztlich doch mit einem verschmitzten Augenzwinkern diese bilderbuchgefährliche Herzkönigin, die nun scheinbar alle in ihrer Gewalt hat? Hat sie eben nicht, Alice und ihr Herzbube weisen sie in die Schranken und alle tanzen mit, die ganze Kompanie mit ihren Gästen, auch den jüngsten, von der Cottbuser Ballettschule Werhun.

Für Torsten Händlers choreografische Inszenierung, deren Wunderwelten am Ende gar nicht so weit entfernt sind von denen des erlebbaren Alltags, hat der Chemnitzer Komponist Steffan Claußner eigene Themen mit einer Zusammenstellung ganz unterschiedlicher musikalischer Wunderlandklänge gemischt, und das kann schon mal bis in die exotischen Tonhöhen der legendären Stimmkünstlerin Yma Sumac führen, die Bodenhaftung geht dennoch nicht verloren. Zurück ins Leben, noch einmal sieht Alice den Wunderlandfreundinnen und -freunden zu. Und wenn sich der Vorhang schließt, dann auch für den Herzbuben. Immerhin, das kleine Herzgeschenk hat sie noch in der Hand. Und wenn dann am Ende Mandy Krügel als ältere Alice neben sich steht und Venira Welijan als junge Alice, die gerade aus dem Wunderland kommt, wenn alle Wunderlandtänzerinnen und -tänzer sich in einer Art Traumrevue verabschieden, dann ist es an der Zeit, die Brummkreisel wieder in Bewegung zu setzen. Seltsam, dieses Surren, dieses Drehen, immer bis zum Umfallen, Tanzen bis zum Schluss und immer wieder anfangen, überall ist Wunderland, im Theater jedenfalls, am Abend, wenn die Utopien tanzen.

 

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