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Berlin
GERAHMT
Alexandra Bachzetsis und Bruno Beltrão bei Tanz im August
Die Volksbühne Berlin wirkt ein wenig verlassen. Nicht sehr viele Gäste sind zur dritten Aufführung von „Private Song“ (2017) der schweizerisch-griechischen Performerin Alexandra Bachzetsis gekommen. Doch die, die da sind, werden umso intensiver in Bann gezogen. Sotiris Vasiliou singt einige Songs („Jetzt sofort oder morgen“ (1954), „Die Gasse“ (1951) oder ein „Medley“), die dem Rembetiko zuzuordnen sind; ein griechischer Volksmusikstil, der sich ab circa 1930 hauptsächlich unter Flüchtlingen entwickelte. Nah am Menschen also. Sehr deutlich werden Schmerz, Leid, Alltägliches und Zwischenmenschliches verhandelt. Aber warum beginnt die Performance mit einer dominanten Erscheinung, die in ein bodenlanges, enges Latexkleid gehüllt lasziv den Boden erkundet? Es ist ein Infragestellen der Stereotypisierungen gegenüber Frauen und Männern. Es ist Bachzetsis selbst, die sich dort auf dem Boden räkelt und zudem ein pompöses Haarteil trägt. Schnell bricht sie dieses sexualisierte Bild, entledigt sich im sichtbaren Abseits der geschlechtsspezifisch aufgeladenen Attribute und ringt androgynisiert und oben ohne mit dem Performer Sotiris Vasiliou in einer choreografierten Wrestlingeinlage.
Bald erscheint der mittlerweile überall gefragte, französische Tänzer Thibault Lac und gleitet anmutig über den an eine Küche gleichenden Tanzboden. Bewegungen kommen hinzu, die man sofort mit griechischer Tanztradition verbindet: Schlagen auf die Fußsohle, Fingerschnippen mit ausgestreckten Armen, das Nachvorneschmeißen der Füße. Bildhaft wird in „Private Song“ gezeigt, was mit oder vom Musikstil Rembetiko erwartet wird – und von den jeweiligen Körpern; deswegen auch das Wrestling und der sexy Tanz vom Beginn. Meist ist Volksmusik, egal welchen Landes, konventionell und traditionell, wenn es um Zuschreibungen von Geschlechter- und Rollenbildern geht.
Bachzetsis gibt für die Interpretation die Theorie des Framing vor. Der zufolge betrachten wir nicht nur alles mit einem Rahmen, sondern uns wird vieles in einem bestimmten Rahmen präsentiert. Das Wie der Aufbereitung ist entscheidend und Schubladendenken sowie Manipulation nicht weit. Was verbindet man instinktiv mit griechischer Volksmusik? Welche Art zu tanzen, welche männlich konnotierten Bewegungsfolgen und auch welche Kleidung? Genau diese (teils fest) gerahmten Bilder werden gezeigt und gebrochen, das eigene Denken provoziert. Das ist hervorragend. „Private Song“ war eine Auftragsarbeit für die documenta 14, die 2017 in Athen und Kassel stattfand und von Adam Szymczyk kuratiert wurde. Bei Kunst und im Museum ist der Zuschauende mit einem bestimmten Ausschnitt, dem Rahmen, dem Bild (engl. frame), mit dem, was der/die KünstlerIn präsentieren und zeigen will konfrontiert. Es gibt keine Möglichkeit abseits zu blicken und das Versteckte zu erschließen. Das ist hier anders und „Private Song“ entgegen des Titels öffentlich und ehrlich.
Die Künstlerische Leitung von Tanz im August, Virve Sutinen, hat für das 30. Jubiläum ein besonderes Programm zusammengestellt (81 Vorstellungen, von mehr als 220 KünstlerInnen aus 18 Ländern) und wird dafür mit circa 22.200 verkauften Tickts, mehr als 6.000 ZuschauerInnen und einer erwarteten Auslastung von 95 Prozent belohnt. Annemie Vanackere, Intendantin des HAU, dem Festivalzentrum, freut sich ebenfalls: „Die Jubiläumsausgabe von Tanz im August hat gezeigt, welches Potenzial eine angemessenere Förderung hat: Die Präsenz von mehr größeren Formaten innerhalb eines Programms, das den Tanz in seiner ganzen Spannbreite zeigt, wurde dankbar angenommen. Tanz im August füllt keine Nische! Ob es die großen Shows sind oder kleine, avantgardistische Arbeiten – die Menschen beweisen ihre Leidenschaft für den Tanz, indem sie die Säle füllen.“
Eben bei den kleinen Formaten, wie dem von Bachzetsis, oder den großen. Bejubelt wurde beispielsweise das Tanzstück „INOAH“ des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrão und seiner Grupo de Rua. Wohl kein europäisches Festival haben sie in jüngster Vergangenheit ausgelassen, so beliebt sind sie, ihr Tanzstil und der Lifestyle, den sie vertreten. Im Haus der Berliner Festspiele präsentieren die zehn Tänzer in einer kurzen Stunde Urban Dance in federleichter Perfektion. Die Dynamik des HipHop kann sich auf kleinstem Raum entfalten und das ist überwältigend. Um dem teilweise rasanten Geschehen konzentriert zu folgen, ist jedoch ein Rahmen angemessen. Sich auf einzelne Tänzer zu konzentrieren, ermöglicht interpretatorischen Tiefgang, denn jeder erzählt seine eigene Tanzgeschichte. Umgeben von über ihnen schwebenden Bildschirmen, die Gipfel und Horizonte zeigen, wird die Bühne zu einem Tanztal. Und zeigt auch, wie unterschiedlich die verschiedenen Stile ankommen. Das massentaugliche HipHop-Stück füllt den großen Saal, das kleinere „Private Song“ begeistert in einem intimen Rahmen. Eine perfekte Festivalmischung.
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