„Hocus Pocus“ von Philippe Saire

„Hocus Pocus“ von Philippe Saire

Magisch

Festivalbesuche in Edinburgh

In der schottischen Hauptstadt finden im August parallel das Edinburgh International Festival und das Edinburgh Festival Fringe statt. Zusammen sagen sie viel über unsere Gesellschaft.

Edinburgh, 22/08/2018

Wenn im August halb Europa Urlaub macht, dreht die Kulturszene erst so richtig auf. Das Sommerloch ist die Zeit der Tanz-, Theater- und Musikfestivals. Von ImpulsTanz in Wien über die Wiesbaden Biennale bis hin zum Sommerfestival in Hamburg. Sie alle präsentieren die Werke (inter-)nationaler KünstlerInnen, diskutieren über aktuelle Themen und zeigen Uraufführungen.

Auf der Insel, in Schottland, ist der August ebenfalls Festivalzeit, doch unterscheidet sich diese ein bisschen von anderen. Zwei parallel stattfindende Festivals hauchen Edinburgh für einen kompletten Monat künstlerisch-kreatives Leben ein; und versetzen sie in einen Ausnahmezustand.

Beim Edinburgh International Festival ist zu Gast, was in den Sparten Oper, Theater, (klassische) Musik und Tanz weltweit von sich Reden macht. Ungefähr 80 Produktionen spielen an zwölf Orten. Beispielsweise gastiert die israelische Kompanie L-E-V mit dem „Love Cycle“, bestehend aus ihrem grandiosen, düsteren und packenden „OCD Love“ und dem schnell zusammen gebastelten Nachfolger „Love Chapter 2“. Und während die Kompanie, die 2013 von Sharon Eyal gegründet wurde, um die Welt tourt, nimmt ihre Gründerin momentan jeden choreografischen Auftrag an, den sie bekommen kann. Ist das noch im Sinne der Gründungsidee? Dass die Kompanie alleine reist und sich selbst verwaltet, auch künstlerisch? Vielleicht ja. Und wenn das Interesse der Öffentlichkeit und der großen Theaterhäuser an der eigenen Person endlich da ist, will man dies freilich ausnutzen und genießen. Der Brite Wayne McGregor ist ebenfalls in den ChoreografInnenolymp aufgestiegen und seine Arbeit weltweit gefragt. Die Company Wayne McGregor zeigt beim Festival das hyperstressige „Autobiography“, das allerdings nicht alle Zuschauenden bis zum Ende durchsitzen können.

Die beiden Kompanien präsentieren ihre Tanzstücke in den größten und majestätischsten Häusern der Stadt: dem King’s Theatre und dem Festival Theatre. Die prunkvollen Innenräume rahmen perfekt den Status und manifestieren den Erfolg. An diesem Punkt kommt man direkt zum Edinburgh Festival Fringe, dem Gegenfestival sozusagen, das in der gesamten Stadt und mitten in der Gesellschaft stattfindet. Die Festivalgeschichte datiert zurück ins Jahr 1947, als nicht-eingeladene Theatergruppen das erste Edinburgh International Festival aufmischten. Nun sind in der gesamten Stadt verschiedene Spielorte (engl. venues), wie Schulen, alte Burghäuser und leerstehende Gebäude zu finden und agieren im August als Bühnen. Dort wird aufgeführt, was es noch nicht auf die großen Bretter geschafft hat. Das Fringe ist ein Off-Festival, eine Talentshow und ein lokales wie nationales Kulturschmankerl zugleich. Nicht nur aus Edinburgh, auch aus Glasgow, London und dem Rest des Landes und der Welt reisen freie Theatergruppen und einzelne KünstlerInnen an, um ihre Arbeiten zu präsentieren. Und das den gesamten August täglich einmal. Insgesamt finden 4000 verschiedene Shows statt und dauern meist nur bis zu einer Stunde. Zack wechseln sich die Performances ab, der Zeitplan ist straff. Ein unglaublicher, logistischer und organisatorischer Aufwand, der nur mit vielen tollen HelferInnen zu schaffen ist, die übrigens alle nach Mindestlohn bezahlt werden.

Doch wie findet man sich als BesucherIn in diesem Überangebot zurecht? Es gibt zwar einen Katalog, doch ist dieser eher als Mordwaffe zu gebrauchen, so schwer ist er. Das einzelne Bild hilft, weswegen die gesamte Stadt mit Flyern und Plakaten für die Shows tapeziert ist. Aufgewertet durch die Sterne, die die britische Presse allgemein für kulturelle Veranstaltungen vergibt. Fünf will jeder haben, vier bekommen manche, gar keine Sterne die meisten. Man kann einfach nicht alles sehen, das ist unmöglich. Entweder plant man seinen Besuch ausgeklügelt im Vorhinein oder lässt sich treiben und entscheidet spontan. Je nachdem, wie sehr es einem zudem ein bestimmtes Venue angetan hat.

Es gibt sogar eine Spielortvereinigung, die sich Assembly (dt. Versammlung) nennt und das ganze Jahr kulturell agiert. Bei der Assembly in der venue namens Roxy findet man während des Fringe Perlen wie das 2012 entstandene „Toujours Et Près de Moi“ der Gruppe Erratica aus London. Die beiden älteren PerformerInnen Sarah Thom und François Testory blicken darin als älteres Paar auf ihre junge Liebe zurück. Diese spielt sich als optische Täuschung vor ihren und den Augen des Publikums ab. Mithilfe der über 100 Jahre alten Theatertechnik „Pepper’s Ghost“ erscheinen durch die Verwendung von zwei Spiegeln und einer Videoprojektion auf einem Tisch zwei jüngere PerformerInnen. Märchenhaft wird hier die Geschichte des Sich-Annäherns, Verliebens und Streitens erzählt. Ein ebenso schönes Märchen ist die Produktion „Hocus Pocus“ des Schweizers Philippe Saire. Die beiden Tänzer Mickaël Henrotay-Delaunay und Ismael Oiartzabal erzählen darin mit traumhaften Mitteln, wie ein Mann über Bord geht und unter Wasser ein kurzes, magisches Abenteuer erlebt. Da erscheinen blaue Tücher auf dem Boden und werden zu tobenden Meereswellen aufgeblasen oder wunderliche Kreaturen aus Pappmaché gucken aus dem Dunkel hervor.

„Hocus Pocus“ ist Teil des International Festivals, findet im Studio des Festival Theatre statt und macht sehr gut deutlich, wie das kulturelle Finanzierungssystem Großbritanniens funktioniert: über (private) GönnerInnen. Für die schottische Unternehmerfamilie Urquhart ist bei der Vorstellung von „Hocus Pocus“, das sie finanziell unterstützen, eine gesamte Stuhlreihe reserviert. Ein Blick ins Festivalprogramm des Edinburgh International Festival zeigt, wie sehr dieses von den funders und supporters, den Sponsoren abhängt. Von Stiftungen über internationale Institutionen bis hin zu etlichen Privatpersonen ist viel vertreten. So halten sich auch die Museen des Landes; und immer und überall ist der Aufruf „Support us!“, zu Deutsch „Unterstützt uns!“ zu lesen.

Das ist alles sehr bezeichnend für ein System, in dem die beiden Enden einer Gesellschaft nicht weiter auseinander liegen könnten. Das kleine, geförderte Prozent, das international riesige Erfolge feiert und die etlichen anderen, die sich herumschlagen, viel eigenes Geld in ihre Arbeit investieren müssen und insgeheim auf Wohltätigkeit hoffen. Um beim Edinburgh Festival Fringe auftreten zu können, müssen die Anreise, die Miete der Venues, Plakate und Flyer aus eigener Tasche bezahlt werden. Beim Edinburgh International Festival ist es freilich genau andersherum. Die Tickets für das International Festival sind zudem mindestens doppelt so teuer (durchschnittlich und umgerechnet 30€) wie für das Fringe. Obwohl das große Festival die Mission verfolgt internationale Kunst und Kultur für jeden erschwinglich und zugänglich zu machen.

So offenbaren sich die beiden Festivals in der schottischen Hauptstadt als ein Spiegel unserer Gesellschaft. Und gerade das Vereinigte Königreich ist in zwei sehr weit auseinander liegende Enden geteilt. Das zeigt sich am Schulsystem, das teure Privatschulen oder wenig oder gar nicht bezuschusste, dafür aber öffentlich zugängliche hat. An der Wohnsituation, die in den Großstädten oft prekär ist. Und eben an diesen beiden Festivals. Doch eigentlich ist dieses Gesellschaftsproblem ein universelles. Was aber können wir tun? Gönnen, ganz nach britischem Vorbild.
 

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